Stand: 04.11.2019 17:34 Uhr

4. November 1989: Vom kleinen Tag der großen Träume

Seit Wochen und Monaten tickt der Countdown zum 9. November, dem 30. Jahrestag der Grenzöffnung zwischen Ost und West. Auch der 4. November 1989 war ein denkwürdiger Tag: Da fand in Berlin "die erste genehmigte nicht-staatliche Demonstration in der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik" statt. Mit geschätzten 500.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern war sie neben etlichen anderen an diesem Tag in der DDR die massivste Kundgebung, auf der die Allmacht der Altherrenriege der SED infrage gestellt wurde. Der westdeutsche Journalist Patrick Bauer, Jahrgang 1983, hat diesem Ereignis jetzt das Buch "Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird" gewidmet, bei dem es sich, laut Nachsatz, "nicht um eine historische, sondern um eine literarische Aufarbeitung ohne Anspruch auf Vollständigkeit" handelt.

Herr Bauer, was hat Sie - bei der Maueröffnung gerade mal sechs Jahre alt - an dieser ganzen Entwicklung und vor allem an dieser Großdemonstration so interessiert?

Patrick Bauer © imago
"Ich fand diesen 4. November als kleinen Tag, der von großen Träumen und großen Geschichten der DDR erzählt, so verheißungsvoll", sagt Patrick Bauer.

Patrick Bauer: Das Spannende an diesem Tag war für mich, dass er nicht der entscheidende Tag dieser friedlichen Revolution war. Vielleicht interessiere ich mich grundsätzlich für das Abseitige, aber ich habe geglaubt und gehofft, dass man an diesem Tag, der für die, die dabei waren, ein unvergesslicher Tag war, etwas ablesen kann über diese Stimmung damals. Es war auch der Versuch, die, die auf dem Alexanderplatz gesprochen haben, wiederzutreffen. Ich glaube, dieses Vakuum am 4. November hat mich interessiert: Das Alte, also das Regime der DDR, ist definitiv am Ende - das Neue steht noch nicht fest, sprich: Die Mauer ist noch nicht offen, die SED ist noch an der Macht.

Initiiert wurde diese Großdemonstration von Berliner Künstlerinnen und Künstlern. Es ging um ungefähr 800 Unterstützer. Am Ende durften dann 26 Rednerinnen und Redner auftreten und zu der Masse sprechen. Wer traf da die Auswahl?

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Bauer: Es ist schwer, das auseinanderzudividieren, aber es gab eine Initiativgruppe, "4. November", die sich nach dem 15. Oktober, nach einer Vollversammlung von Theaterschaffenden am Deutschen Theater in Berlin gebildet hat, als zum ersten Mal die Idee zu einer solchen angemeldeten Demonstration aufkam. Da wurde sehr lange darüber diskutiert, wer für die einzelnen Themen stand, die ihnen wichtig waren. Es war klar, dass einige Schauspieler sprechen würden, denn das Ganze wurde initiiert von Schauspielern. Es war klar, es würden große Namen wie Stefan Heym, Christoph Hein oder Christa Wolf sprechen, also Schriftsteller, die schon eine Stimme hatten. Es war aber auch klar, dass Oppositionelle, wie die damals noch unbekannte Marianne Birthler oder Jens Reich, der im Neuen Forum aktiv war, auch zu Wort kommen mussten, denn die waren bisher sprachlos. Und es war auch klar, dass man auch die SED zu Wort kommen lassen musste, um diesen Dialog, den man mit den Mächtigen antreten möchte, tatsächlich zu führen. Also sprach, weil sich sonst niemand traute, Günter Schabowski für die SED.

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Christa Wolf beschwor ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger, die DDR nicht zu verlassen. Sie sagte: "Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg." War das da schon Illusion?

Bauer: Für sie war es, wenn man in ihren Aufzeichnungen liest, keine Illusion. Es war schon denkbar kühn und fantasievoll, überhaupt darüber nachzudenken, ob dieser Sozialismus, den man 40 Jahre in seiner ganzen Erstarrung hatte erleben müssen, demokratisch wird. Das war bei Christa Wolf oder auch bei Stefan Heym tiefste Überzeugung, fast schon ein großer Wunsch, der endlich in Erfüllung gehen könnte: ein guter, ein menschenfreundlicher Sozialismus. Man muss sich aber vor Augen halten - das finde ich an diesem Tag so bemerkenswert -, dass der Mauerfall oder eine Wiedervereinigung auf dem Alexanderplatz kein Thema war. Aber nicht, weil man Angst hatte, zu tollkühne Forderungen zu stellen, sondern auch, weil es einfach noch nicht vorstellbar war.

Sie haben Ihrem Buch den Titel gegeben: "Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird". Das ist ein Songtext von Rio Reiser, den er so ein Jahr vorher bei einem Konzert in der Ostberliner Seelenbinder-Halle vorgetragen hat. Warum haben Sie das als Buchtitel gewählt?

Buchcover: Patrick Bauer - Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird © Rowohlt Verlag
"Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird" ist im Rowohlt Verlag erschienen und kostet 20,00 Euro.

Bauer: Ich habe da auch länger darüber nachgedacht, ob man so einen Titel nehmen kann, der von einem Westdeutschen in die damalige DDR getragen wurde. Aber tatsächlich fand ich, dass diese Liedzeile mein Gefühl, was ich in den Interviews gespiegelt bekommen habe, doch sehr gut trifft. Dieses Gefühl von einer gewissen Verbundenheit zu einem Land, was man in seiner Verkommenheit und Korruptheit ablehnt - das trifft diese Zeile, die Rio Reiser als Westdeutscher sang, sehr gut.

Ist da der Traum von der Reformierbarkeit des Sozialismus, der Reformierbarkeit der DDR geplatzt?

Bauer: Auf jeden Fall ist der grundsätzlich gesehen geplatzt. Ulrich Mühe, der Schauspieler, der auch an jenem Tag sprach, sagte: "Für einen Tag hatten wir, die privilegierten Intellektuellen, einen Traum zu bieten, der für alle interessant war, weil man plötzlich zusammenkommen und freche und mutige Forderungen stellen konnte." "Spätestens mit dem 9. November", sagte er dann vor seinem Tod, "war dieser Traum aber nichts wert im Vergleich zu den Verheißungen des Westens." An diesem Tag hatte man plötzlich das Gefühl, gemeinsam das eigene Schicksal wieder in der Hand zu haben und nicht getrieben zu sein. Und fünf Tage später, spätestens mit dem Fall der Mauer, war man wieder getrieben von größeren historischen Ereignissen. Deswegen fand ich diesen 4. November als kleinen Tag, der von großen Träumen und großen Geschichten der DDR erzählt, so verheißungsvoll.

Das Gespräch führte Jürgen Deppe

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 04.11.2019 | 19:00 Uhr

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