Wunder von Lengede: Elf Bergleute nach zwei Wochen gerettet
Im Herbst 1963 wird Lengede Schauplatz eines Bergwerks-Unglücks: 14 dramatische Tage mit Trauer, Bangen und Hoffen. 29 Menschen verlieren ihr Leben, 89 werden gerettet - die letzten elf am 7. November 1963, was als "Wunder von Lengede" in die Geschichte eingeht.
Donnerstag, 24. Oktober 1963: Die zweite Schicht im niedersächsischen Erzbergwerk Lengede bei Salzgitter nähert sich dem Ende, es ist bald 19.30 Uhr. Bergmann Bernhard Wolter will pünktlich Feierabend machen, um schnell zu seiner fünf Monate alten Tochter und seiner Frau zu kommen. Eigentlich hatte er ohnehin Urlaub nehmen wollen - aber der Gedanke an ein zusätzliches Weihnachtsgeld spornt ihn an, doch noch eine Schicht zu übernehmen. Dem jungen Elektromechaniker Adolf Herbst geht es ähnlich - er soll eine Pumpanlage im Schacht Mathilde installieren und hat sogar eine Extraschicht drangehängt. Kurz vor 20 Uhr hört er auf zu arbeiten, ist erschöpft. Aber er freut sich auf den nächsten Tag, denn er will frei nehmen und seine für den Sonnabend geplante Verlobung vorbereiten.
Sintflut aus Schlamm und Wasser flutet Grube Mathilde
Doch für die Kumpel kommt alles ganz anders: Kurz vor 20 Uhr bricht der erst kürzlich gebaute Klärteich ein. Fast 500.000 Kubikmeter Schlamm und Wasser fluten die Grube Mathilde. In dem Schacht sind zum Zeitpunkt des Unglücks 129 Arbeiter. Zwei Kumpel können sich über den Hauptschacht retten, 44 über den Materialstollen. 33 werden mit Strickleitern durch ein Wetterbohrloch gezogen. Für Bernhard Wolter, Adolf Herbst und die restlichen Bergleute scheint die Lage jedoch aussichtslos zu sein. Vor ihren Augen reißt das Wasser alles mit, was sich ihm in den Weg stellt: Werkzeug, Holzwagen, Kollegen.
Flucht in den "Alten Mann"
Wolter und Herbst flüchten sich geistesgegenwärtig in einen alten Streckenausbau. Doch auch hierhin kommt das Wasser, sodass die Männer - und mit ihnen 19 andere - von einer Höhle in die nächste klettern, bis sie schließlich über ein schmales Brett in einen Bruchhohlraum gelangen, einen sogenannten Alten Mann. Er ist sechs mal zwei mal drei Meter groß. Der alte Hohlraum ist nicht mehr abgesichert, von oben lösen sich Steine, der Sauerstoff ist knapp, sodass sie sich kaum wach halten können. Hier werden die Männer die nächsten 14 Tage ausharren - lebendig begraben.
Kumpel geben die Vermissten nicht auf
Freitag, 25. Oktober: Fast 24 Stunden nach dem Unglück werden gegen 19 Uhr sieben weitere Bergleute, die in 40 Metern Tiefe eingeschlossen waren, gerettet - von Kumpeln, die sich ohne Genehmigung der Grubenleitung noch einmal in den Schacht abgelassen haben, um nach Vermissten zu suchen. Am Sonnabend brüten Rettungskräfte und Techniker wieder über den Tunnelskizzen des Bergwerks. Sie berechnen, dass sich am Ende einzelner Stollen Luftblasen gebildet haben könnten - und dass sich dort möglicherweise Überlebende aufhalten. Die Einsatzleitung beschließt, an verschiedenen Orten zu bohren.
Klopfzeichen aus 79 Metern Tiefe
Sonntag, 27. Oktober: Die ersten Klopfzeichen werden aufgefangen - drei Bergleute befinden sich tatsächlich in einer Lufttasche in 79 Metern Tiefe, ein vierter Mann, der bei ihnen war, ist ertrunken. In Lengede sind mittlerweile fast 1.000 Hilfskräfte im Dienst - vom Roten Kreuz, dem Technischen Hilfswerk, der Bundeswehr und dem Grenzschutz. Noch nie wurden so viele Rettungsgeräte eingesetzt: Flachbohrer, Großbohrer, Überdruckkammern, Hochleistungskompressoren und die sogenannte Dahlbuschbombe, eine torpedoförmige Rettungskapsel. Fieberhaft wird mit den Bergungsarbeiten begonnen. Doch erst vier Tage später, am 1. November, können die drei geborgen werden. Sie sind erschöpft, aber unversehrt. Ihre Namen: Fritz Leder, Gerhard Hanusch und Emil Pohlei.
Grubenunglück führt zum ersten Live-Fernsehspektakel
Erstmals ist bei einer solchen Rettungsaktion das Fernsehen - NDR und ZDF - live dabei. Bei der Tagesschau in Hamburg haben elf europäische sowie US-amerikanische und kanadische Fernsehanstalten vom Bohrloch abonniert. Insgesamt berichten 449 Journalisten aus aller Welt aus Lengede. 48 Pressekonferenzen werden abgehalten. Millionen Menschen können die Rettungsarbeiten am Fernseher mitverfolgen.
Der NDR hilft mit Scheinwerfern, Mikrofonen und Gegensprechanlagen. Fernsehen und Hörfunk können schneller berichten als die Tageszeitungen. Gerade deren Reporter geraten unter Druck, packende Geschichten liefern zu müssen Doch manche der Journalisten vor Ort schießen über das Ziel hinaus, bedrängen verzweifelte Bergmannsfamilien. Einer versucht, im Zelt der Rettungskräfte an zusätzliche Informationen zu kommen und wird hinausgeprügelt. Die "Bild"-Zeitung gründet eine Sonderredaktion und mietet ein ganzes Gasthaus. Die örtliche Post kassiert in diesen Tagen für ihre Dienstleistungen insgesamt 30.000 Mark Gebühren.
Elf Männer - gefangen in Dunkelheit
Davon bekommen Bernhard Wolter, Adolf Herbst und die anderen nichts mit. Sie sitzen immer noch im "Alten Mann", in absoluter Dunkelheit, denn ihre Grubenlichter sind längst erloschen. Aber mittlerweile haben sie mehr Sauerstoff, der vermutlich durch eine kaputte Leitung kommt. Immer wieder kommt es zu Steinschlägen, zehn der Kumpel leben nicht mehr, einige sind schwer verletzt. Sie haben Hunger - und vor allem Durst. Der 20-jährige Herbst ist der erste, der von dem Wasser trinkt, das sie umgibt. Wasser, in dem Leichen verwesen. Die anderen fürchten Leichengifte, warten ab, wie es Adolf Herbst ergeht - und trinken dann auch. Sie sind verzweifelt, haben Wahnvorstellungen - doch die Hoffnung auf Rettung erhält sie am Leben. Wolter glaubt, Bohrgeräusche zu hören. Doch über dem "Alten Mann" bohrt niemand, die Geräusche sind eine Illusion.
Trauerfeier ist schon terminiert
Über Tage hat der Hüttendirektor sie bereits für tot erklärt, die Trauerfeier ist für den 4. November angesetzt; 500 Mark an die Witwen sind ausbezahlt, damit sie die Beerdigung finanzieren können. Auch die Bergungskolonnen sind bereits abgerückt. Doch einige der Hauer lassen nicht locker, sie hoffen, dass noch Bergleute am Leben sein könnten - im "Alten Mann". Der Grubendirektor glaubt nicht an Wunder, aber er fürchtet den Zorn der Kumpel und den Druck der Medien. Er lässt noch einmal bohren - gegen die eigene Überzeugung, wie er sagt. Doch wo genau der "Alte Mann" unter Tage liegt, zeigen die Karten nicht. An der Stelle, die der Vermessungstechniker für die richtige hält, liegen Schienen, daher wird die Bohrstelle einfach einige Meter weiter in eine andere Richtung verlegt.
Unglaubliches Glück - Bergungstruppen kehren zurück
Es ist reiner Zufall - und unglaubliches Glück: Am 3. November wird 200 Meter vom gefluteten Hauptschacht entfernt genau der richtige Punkt getroffen. Im "Alten Mann" hören elf Überlebende auf einmal wirkliche Bohrgeräusche, Wasser spritzt über ihre Köpfe. Sie tasten die dunkle Höhle ab, verzweifelt auf der Suche nach etwas, mit dem sie sich bemerkbar machen können. Wolter hat ein Taschenmesser im Schuh, mit steifen Armen versucht er, es schnell herauszuziehen, er klopft wild auf das Metallrohr. Über Tage herrscht Fassungslosigkeit über die Klopfzeichen. Dann riesige Freude. Die Bergungstruppen und die Gerätschaften, die zum Teil schon auf der Autobahn unterwegs sind, werden wieder zurückbeordert, die Familien informiert.
Kontakt über ein schmales Rohr - Kanzler Erhard spricht
Über ein schmales Rohr - es misst gerade mal 42 Millimeter im Durchmesser - bekommen die elf Eingeschlossenen Kontakt nach oben. Als erstes erhalten sie eine Taschenlampe, dann Tee, Möhrensaft. Wolter, der Sprecher der elf Bergleute, wünscht sich Zigaretten - doch die bekommen sie vorerst nicht. Es dauert noch mehrere Tage, bis sie geborgen werden können. Die Bohrarbeiten müssen behutsam vorgenommen werden, damit die Höhle nicht einstürzt. Es gibt wieder Steinschläge. Sie zertrümmern Bernhard Wolters Rippen. Über eine Gegensprechanlage können die Eingeschlossenen mit ihren Angehörigen sprechen. Als ihnen gesagt wird, Bundeskanzler Ludwig Erhard wolle mit ihnen reden, fühlen sie sich auf den Arm genommen. Doch der CDU-Politiker ist nach Lengede gekommen und spricht wirklich zu ihnen.
"Ich glaube, alle deutschen Herzen sind im Augenblick bei Ihnen, in der Hoffnung, in der Zuversicht, dass Sie wieder das Licht des Tages erblicken werden. Glück auf!" Kanzler Ludwig Erhard
7. November 1963: Tag der Rettung in Lengede
Am 7. November ist es endlich so weit: Einer nach dem anderen kommt über die sogenannte Dahlbuschbombe nach oben. In dieses Rettungsgerät einzusteigen, sei nicht einfach gewesen, erinnert sich Siegfried Ebeling, der ebenfalls zu den Verschütteten zählt, 2010 im Deutschlandfunk: "Ja, man musste schon Praktiken haben. Die haben uns das gezeigt, je nachdem wie sie einsteigen wollen. Wenn sie mit dem rechten Fuß zuerst reingingen, mussten sie mit der rechten Schulter rein und dann sich richtig reindrehen." Bei einigen habe das nicht auf Anhieb geklappt. Deshalb hätten die Rettungssteiger etwas rabiater vorgehen müssen "und denjenigen reingepresst". Er selbst habe bei dem Aufstieg in der Dahlbuschbombe "an gar nichts gedacht. Ich war froh, dass ich nach oben kam und habe meine Familie wiedergesehen. Wegen der Familie habe ich mir ja alle Beine ausgerissen".
Adolf Herbst hat geschwollene Knie und kann nur noch robben. Die Rettungssteiger müssen ihn in die Dahlbuschbombe hineinheben. Als er nach oben kommt, ist er voller Freude. Er dankt Gott, dass er ein zweites Leben bekommen habe. Aber er wundert sich auch über den Ernst und das Mitleid in den Gesichtern seiner Retter. "Mensch, ich bin doch draußen, ist doch toll", sagt der Arbeiter damals zu ihnen.
Die Geretteten werden wegen des für sie grellen Lichts an der Oberfläche mit Sonnenbrillen versorgt. "Da standen Krankenwagen, für jeden ein Krankenwagen. Wir wurden untersucht, die alten Klamotten ausgezogen und etwas Sauberes an und dann sind wir ins Krankenhaus gefahren, jeder einzeln mit einem Krankenwagen, und die Frau war immer dabei", führt Ebeling weiter aus.
In der Öffentlichkeit werden die Geretteten gefeiert wie Helden. Traurige Helden, denn 29 ihrer Kumpel sind gestorben - für sie hat es kein Wunder gegeben.
Das Leben danach: Tragödie bleibt in den Köpfen
Siegfried Ebeling ist einer der ersten Geretteten, die wieder unter Tage arbeiten. "Aber nicht freiwillig, ich bin getrieben worden", sagt er der "Kreiszeitung" 2010. Die Geschäftsleitung habe verlangt, dass sich die Bergleute selbst wieder gesund schreiben. Er habe aber immer Probleme unter Tage gehabt. "Wenn mal was runtergebrochen ist und ich war völlig aufgeregt, da wurde ich ausgelacht", erklärt Ebeling. Die Arbeit unter Tage sei sehr hart, "wenn aber das Geld am Ende stimmt, hat man das geschluckt." Eine psychologische Betreuung für die Verschütteten gibt es damals nicht. "Das hätte vielen von uns geholfen", ist sich der ehemalige Bergmann 2010 sicher. Er habe dann den Entschluss gefasst, "wenn du eine Kur bewilligt bekommen hast, dann haust du sofort in den Sack und haust ab, und das habe ich dann auch getan. Ich bin dann zu VW gegangen". Für den Wolfsburger Autobauer arbeitet er noch 17 Jahre.
Bernhard Wolter nimmt nach seiner Gesundung zunächst das Angebot der Grubenleitung an, über Tage zu arbeiten. Nach einiger Zeit verringert sich jedoch der Lohn, sodass Wolter gezwungen ist, wieder unter Tage zu arbeiten. Entsetzt ist er darüber, dass er und seine Frau das Beerdigungsgeld wieder zurückzahlen müssen. Viel Geld verdienen Bergarbeiter nicht - trotz der harten Arbeit und des hohen Risikos. Bernhard Wolter schließt deshalb wie einige der anderen Überlebenden von Lengede einen Exklusivvertrag mit dem "Stern" ab und berichtet dem Magazin über die Erlebnisse. Später veröffentlicht er auch ein Buch, erzählt vor Schulklassen, wie es ihm ergangen ist. 2003 stirbt Wolter.
Adolf Herbst holt nach sechs Wochen Krankenhaus seine Verlobung nach - später feiert er Hochzeit. Unter Tage kehrt er nie wieder zurück. Seine gestorbenen Kumpel hat er sein Leben lang nicht vergessen. "60 Jahre leben bedeutet für mich: Ich konnte das erleben, 29 Bergleute konnten es nicht. Jedes Jahr haben wir unseren Lengede-Tag." Zum Jahrestags des Unglücks zündet Herbst immer eine Gedenkkerze an. Sie brennt vom 24. Oktober bis zum 7. November - dem Tag seiner Rettung. Dann stelle er fest, "wie lange die Zeit überhaupt ist", sagt der inzwischen 80-Jährige dem NDR im Oktober 2023. Herbst sei sehr dankbar für seine Rettung und ein zweites Leben, wie er sagt. Aber er wünscht sich auch Aufklärung. "Ich hoffe, dass es eines Tages einmal dazu kommt, dass irgendjemand das erklären und sagen kann: Warum ist dieses Unglück passiert?"
Untersuchungsbericht: "Klärteich ein höchstgefährliches Risiko"
In einem Untersuchtungsbericht zur Ermittlung der Unglücksursache heißt es: "Der Betrieb des Klärteiches stellte unter den geschilderten Umständen von Anfang an ein höchstgefährliches Risiko dar." Bereits zuvor sei es mehrfach zu Wassereinbrüchen im Schacht gekommen. Diese Information sei aber nicht zu den Aufsichtsbehörden gelangt. Trotz dieser Situation gibt es keinen Prozess - aus Mangel an Beweisen. Ursprünglich sind fünf Verantwortliche für die Grube sowie der Leiter des Bergamts Hildesheim wegen fahrlässiger Tötung angeklagt gewesen.
Gedenkstätte und Museum erinnern an das Unglück
Im Sommer 1964 werden die Entwässerungsarbeiten - das sogenannte Sümpfen - in Lengede beendet, die Erz-Förderung wird wieder aufgenommen. Ende 1977 ist Schluss, der Abbau von Eisenerz wird eingestellt. Zwei Jahre später wird der Förderturm des Schachtes Mathilde gesprengt. Eine Gedenkstätte auf dem früheren Bergbau-Gelände erinnert heute noch an das Unglück von 1963. Auf einer Gedenktafel ist zu lesen, was damals geschehen ist. Außerdem sind die Namen aller Toten auf einem Steinrelief eingemeißelt. Zum 60. Jahrestag des Unglücks wird am 24. Oktober 2023 ein Museum in der Gemeinde Lengede eröffnet. Dort sind neben der langjährigen Bergbaugeschichte des Ortes auch Objekte rund um das Unglück sowie die spektakuläre Rettung ausgestellt. 29 erloschene Gruben-Lampen erinnern an die Bergleute, die im Schacht "Mathilde" gestorben sind.
Das "Wunder von Lengede" wird später mehrfach verfilmt.