Als der Seemann noch nach Hause funkte
Sie übermittelten Weihnachtsgrüße von und an Bord, erlebten große und kleine Dramen: Bis Ende der 1990er-Jahre waren die Küstenfunker der menschliche Draht zu den Seeleuten, deren Verbindung nach Hause.
An Weihnachten waren alle Kanäle besetzt. "Die Seeleute, die nicht vom Schiff wegkamen, wollten natürlich auch mit ihren Lieben zu Hause sprechen", erinnert sich Bernd Wagemeyer an seinen Dienst in der UKW-Küstenfunkstelle Rostock Radio im Gespräch mit dem NDR vor einigen Jahren. Über die Funkanlage nahm er Kontakt zu Schiffen auf oder vermittelte Telefongespräche zwischen Seeleuten und deren Familien.
"Wie eine kleine Familie"
Im Februar 1990 hatte der damals 31-Jährige seinen Lehrgang an der Ingenieurhochschule Warnemünde abgeschlossen und als Küstenfunker angefangen - mitten in der aufregenden Wendezeit. Ein Drei-Minuten-Gespräch kostete nach der Währungsunion 7,20 D-Mark. "Das war ja nicht ganz billig", sagt Wagemeyer. "Aber in dem Moment war das dann auch egal." Im normalen Schichtdienst saß Wagemeyer mit einem Kollegen im Büro, zu Spitzenzeiten kam ein dritter dazu. An Heiligabend durften nur die Familienväter zu Hause bleiben oder mussten erst zur Nachtschicht erscheinen. Dafür sprangen die anderen ein. Es sei schon wie eine kleine Familie gewesen, erinnert er sich.
Weihnachtsgrüße auf hoher See
Ähnlich familiär geht es auch im Studio der NDR Hörfunksendung "Gruß an Bord" zu, die es seit 1953 gibt. Der ehemalige Moderator Herbert Fricke weiß schon früh, wie wichtig seine Weihnachtssendung ist. An Heiligabend geht sie auf NDR 90,3 und NDR Info auf Sendung. Seeleute aus aller Welt warten auf Nachrichten von ihren Angehörigen daheim, nutzen mittlerweile auch den Livestream im Internet oder lesen die E-Mail-Grüße ihrer Familie.
Zwar sind die Zeiten moderner geworden, aber die Sendung ist nach wie vor populär. "Auch Seeleute sind ja verwurzelt - ob in Hamburg, Bremen, Rostock, Rügen oder sonst wo", sagt Fricke dem NDR vor einigen Jahren. "Wenn sie dann meine Stimme hören, wissen sie: Jetzt spricht die Heimat zu mir." 2013 gibt er die Moderation nach rund 35 Jahren ab. Die Hörfunksendung stellt sich auf technische Neuerungen ein, geht mit der Zeit.
Der Küstenfunk aber hat seit Jahren ausgedient. Ende 1998 schickte die größte deutsche Küstenfunkstation, Norddeich Radio, zum letzten Mal Grüße über den Äther.
Wie alles begann
Erstmals kam die drahtlose Telegrafie auf Schiffen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Einsatz, bald schon weltweit. Immer intensiver arbeiteten die Länder im Bereich Seefahrt zusammen, profitierten von der vereinfachten Kommunikation. Auch vier große deutsche Küstenfunkstationen nahmen in dieser Zeit den Betrieb auf: Elbe-Weser-Radio ging zuerst 1904 auf Sendung.
Wenig später folgte Norddeich Radio in Ostfriesland: am 1. Mai 1907. Das spätere Rügen Radio begann am 11. September 1911 als Küstenfunkstelle Swinemünde, wurde erst 1932 auf die Insel verlegt. Ab 1946 kam Kiel Radio dazu, betrieben von der Oberpostdirektion der Stadt. Bis Ende der 1990er-Jahre sendeten die Küstenfunker in alle Welt, per Sprechfunk und Morsetelegrafie. Sie erlebten in dieser Zeit sowohl kleine als auch große menschliche Dramen.
Seefunk und Schiffskatastrophen
So ging am 21. September 1957 ein Funkspruch in die Geschichte ein, der Notruf der "Pamir". Auf dem Weg von Buenos Aires nach Hamburg war der Großsegler auf dem Atlantik in Seenot geraten: "SOS, SOS, SOS von Pamir, stopp. Kommt sofort zu uns, stopp. Deutsche Viermastbark Pamir in Gefahr zu sinken, stopp." Aber die Zeit war zu knapp. Nach wenigen Stunden gab es keine Rettung mehr, das Schiff kenterte. Zuvor hatte Norddeich Radio noch eine Sturmwarnung herausgegeben. Vergeblich, die "Pamir" geriet direkt in den Hurrikan Carrie. Nun beteiligte sich die deutsche Küstenfunkstelle an der bis dahin größten Rettungsaktion der Seefahrtsgeschichte. Tagelang dauerte die Suche nach Überlebenden. Die traurige Bilanz des Unglücks: 80 Männer starben, nur sechs konnten gerettet werden.
Auch an der groß angelegten Suche nach dem verschollenen deutschen Frachtschiff "München" war Norddeich Radio beteiligt, sammelte Hinweise auf den Verbleib des Frachters. Im Dezember 1978 war er in Bremerhaven ausgelaufen und befand sich auf einer Atlantiküberquerung, als er vor den Azoren spurlos verschwand. Mehr als 100 Schiffe und 13 Flugzeuge suchten nach der "München", sie wurde nie gefunden. Die genaue Unglücksursache ist bis heute ungeklärt. Offenbar gab der Bordfunker die falsche Position an. Vermutlich wurde das Schiff Opfer einer Monsterwelle.
DDR-Frachter versinkt in der Biskaya
Von Schiffsunglücken blieb auch die DDR nicht verschont. Das bis dahin schwerste erlebte der Arbeiter- und Bauernstaat 1967, als der Frachter "Fiete Schulze" in der Biskaya in einen schweren Sturm geriet und kenterte. Zwar hörte der Funker des Fruchtschiffes "MS John Brinckmann", das ebenfalls unter DDR-Flagge fuhr, den schwachen Notruf. Aber die "Fiete Schulze" konnte nur noch eine unvollständige Positionsangabe machen. So waren die Retter aus dem eigenen Land nicht schnell genug vor Ort. Ein amerikanischer Tanker konnte einige Passagiere aufnehmen, aber 14 Menschen starben bei dem Untergang: Eine Tatsache, die die DDR-Regierung am liebsten vertuschen wollte - ebenso, dass westliche Schiffe an der Rettung der 28 Überlebenden beteiligt waren.
Auch medizinische Behandlungen oder Notoperationen wurden über Funk koordiniert. War kein Arzt an Bord oder konnte keiner eingeflogen werden, musste der Kapitän schon mal selbst die Behandlung durchführen - nach Anleitung aus der Ferne.
Alltag eines Küstenfunkers
Solche großen Dramen erlebte Bernd Wagemeyer in seiner kurzen Dienstzeit bei Rostock Radio nicht, kleine aber schon. Wenn etwa ein Reeder Pleite ging, lagen die Schiffe im Hafen, kamen nicht mehr weg und die Seeleute wollten nach Hause telefonieren. "Wenn dann keiner mehr die Rechnung übernahm, haben sie auch die Verbindung nicht gekriegt", erzählt er. "Das ging dann schon mal zu Herzen."
Rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr, waren die Küstenfunker im Einsatz. Zu den wichtigsten Aufgaben von Wagemeyer und seinen Kollegen gehörte die Koordinierung von Schiffen der DDR-Handelsflotte. Wegen der geringen Reichweite des UKW-Funks zählten lediglich die Einzugsbereiche der Häfen Wismar und Rostock zu ihrem Gebiet. Mit dem Rest der Welt nahm Rügen Radio Kontakt auf, die übergeordnete Küstenfunkstelle.
"Der ganze Funkverkehr wurde auch überwacht", erinnert sich Wagemeyer. Falsche Formulierungen oder etwa die Nennung des Rufzeichens in der verkehrten Reihenfolge mahnte die Funküberwachung an. "Das kriegte dann der Chef und man wurde schon mal rangeholt."
Wende und Ende
Aufregend fand Wagemeyer die erste Hanse Sail 1991, geprägt von der Begeisterung und Aufbruchsstimmung der Nachwendezeit: "Das war vom Anblick schön, das war vom Gesprächsaufkommen toll. Wir waren mit drei Mann durchgängig da. Da ging es rund." Wenn er frei hatte, schaute er sich die vielen Segelschiffe im Hafen an. Über Funk entstanden Kontakte zur Besatzung, die dann schon mal zur Besichtigung an Bord einlud. Seine tägliche Arbeit bekam dadurch eine persönlichere Note.
Bis 1992 plötzlich Schluss war und Rostock Radio dichtgemacht wurde. "Wir waren alle ganz traurig", erinnert sich Bernd Wagemeyer, obwohl er danach als gelernter Elektriker bei der Deutschen Telekom in einem anderen Bereich Arbeit fand. Zu Kollegen von damals hat er Kontakt gehalten. "Weil das so eine ganz eigene kleine Welt für sich war."
* Die Urfassung dieses Beitrags wurde bereits vor einigen Jahren veröffentlicht. Die Autorin arbeitet inzwischen nicht mehr für den NDR.