Der Hamburger Hafen um 1900 (Lichtdruck-Bildpostkarte) © picture alliance/IMAGNO

1896: Als Tausende Hamburger Arbeiter den Hafen lahmlegten

Stand: 10.04.2024 11:20 Uhr

Hamburg Ende des 19. Jahrhunderts: Obwohl der Hafen boomt, werden die Arbeiter ärmer und ärmer. Am 21. November 1896 treten Tausende für bessere Arbeitszeiten und höhere Löhne in den Streik - und stoßen auf großen Widerstand.

von Dirk Hempel

Dutzende von Frachtseglern und Dampfern drängen sich im Herbst 1896 im Hamburger Hafen. Der Getreidehandel boomt, und der Bedarf an Kohle ist wegen der fortschreitenden Industrialisierung hoch. Seit Langem schon herrscht Hochbetrieb. Es gibt genug Arbeit für alle, und die Kaufleute verdienen gutes Geld. Denn Hamburg ist die führende Handelsmetropole des aufstrebenden Kaiserreichs mit Verbindungen in alle Welt. Und der Hafen mit seinen Kais, Speichern und Betrieben ist ihr Motor.

Kampf für ein besseres Leben

Kaiarbeiter im Hamburger Hafen um 1900. © wikimedia.org Foto: Johann Hamann
Wenig Geld für schwere Arbeit: Manche Schicht dauert 72 Stunden.

Doch seit dem Morgen des 21. November 1896 steht dieser Motor still. Die Schauerleute sind nicht erschienen. Fast 5.000 Arbeiter streiken für bessere Arbeitsbedingungen - vor allem feste und kürzere Arbeitszeiten - und mehr Geld. Denn die Lohnsätze stammen noch aus den 1880er-Jahren, inzwischen hat sich aber das Arbeitstempo erhöht, weil die Reeder ihre immer größeren Schiffe so schnell wie möglich wieder fahren lassen wollen. Außerdem sind die Preise für Lebensmittel und Mieten enorm gestiegen, das Realeinkommen der Arbeiter ist also gesunken. Die meisten führen mit ihren Familien ein ärmliches Leben. Das wollen sie nun ändern.

Nur der Bergarbeiterstreik von 1889 ist größer

Einen Tag nach den Schauerleuten treten auch die Kohlenarbeiter und Kornumstecher in den Ausstand, ihnen folgen bald die Schiffs- und Kesselreiniger, Ewer- und Kranführer, Kai-, Speicher- und Lagerhausarbeiter, Schiffsmaler und Seeleute. Einer der größten Arbeitskämpfe des Kaiserreichs hat begonnen. Nach wenigen Tagen streiken bereits mehr als 8.000 Arbeiter. Als im Dezember dann der Generalstreik ausgerufen wird, hat sich ihre Zahl bereits verdoppelt. Nur der Streik der Bergarbeiter im Ruhrgebiet sieben Jahren zuvor war größer.

Bald werden Rohstoffe knapp

Versammlung von Hafenarbeitern in Hamburg am 4. Dezember 1896 (Holzstich von Emil Limmer) © Hapag-Lloyd
Kaiarbeiter versammeln sich während des Streiks im Dezember 1896 in einem Saal auf St. Georg (Holzstich von Emil Limmer).

Weil die Gewerkschaften anfangs gegen den Streik sind und die SPD von den Ereignissen völlig überrascht wird, organisieren die Arbeiter ihren Kampf selbst. Sie stellen Streikposten auf, berufen Versammlungen ein, chartern Barkassen, die die Einhaltung des Ausstandes kontrollieren. Die Auswirkungen machen sich im Hafenbetrieb rasch bemerkbar. Die Zahl der wartenden Schiffe steigt von Tag zu Tag. Gummi, Kaffeesäcke oder Kupfer liegen auf den Kais herum, stapeln sich in den Schuppen. Den Fabriken in Hamburg und im Umland drohen die Rohstoffe auszugehen.

Die Arbeitgeber bleiben hart

Doch der Arbeitgeberverband um den Werftbesitzer Hermann Blohm hofft darauf, dass den Streikenden bald das Geld ausgeht und weist ihre Forderungen scharf zurück. Die Unternehmer werben im In- und Ausland, etwa in England und Italien, Streikbrecher an, die ihre Schiffe be- und entladen, die Waren transportieren und lagern sollen. Aber es kommen zunächst nur "sonst in den Caffeehallen umherlungernde Leute, Barbiergehilfen und dergleichen an körperliche Arbeit ungewohnte Männer", wie ein zeitgenössischer Bericht festhält.

Spenden für die Streikenden

Streikende Hafenarbeiter stempeln 1896 ihre Streikkarten ab (Holzstich von Emil Limmer) © wikimedia.org
Die Hafenarbeiter müssen im Winter 1896/97 täglich ihre Streikkarte abstempeln lassen, um Streikgeld zu erhalten (Holzstich von Emil Limmer).

Nun rufen auch die Gewerkschaften und die SPD zur Unterstützung der Hafenarbeiter auf. Bald erreichen Zehntausende Mark an Spenden die Hansestadt, sogar aus dem Ausland. Nicht nur Hamburger Ladenbesitzer und kleine Händler unterstützen den Kampf für mehr Geld, auch liberale bürgerliche Parteien und Professoren erklären ihre Solidarität mit den Streikenden. Acht Mark erhalten diese jetzt pro Woche aus der Streikkasse, weniger als ein Schauermann sonst in zwei Tagen verdient.

Der Kaiser fordert Soldaten gegen die Streikenden

Der Hamburger Senat hält sich zunächst zurück und versucht, eine Eskalation der Auseinandersetzung zu vermeiden. Forderungen der Reeder, den Streik durch Soldaten zerschlagen zu lassen, lehnt er ab, auch wenn Kaiser Wilhelm II., ein erbitterter Gegner der aufständischen Arbeiter, den Kommandeur des IX. Armeekorps in Altona, Graf Waldersee, aufgefordert hat: "Fassen Sie nur ordentlich zu, auch ohne anzufragen."

Die Wellen der Empörung haben längst die Hauptstadt erreicht, wo die Regierung die Lohnforderungen als unbegründet abtut und konservative Politiker gegen die SPD und die Gewerkschaften wettern. Verhandlungen sind für sie schlicht "Mumpitz".

Unternehmer wollen die Niederlage der Arbeiter

Hamburger Politiker versuchen bald, zwischen den Kontrahenten zu vermitteln. Doch die Arbeitgeber lehnen Gespräche weiterhin strikt ab. Die Großbürger wollen unter keinen Umständen Arbeitervertreter als gleichberechtigte Verhandlungspartner anerkennen. Für sie geht es nicht um sozialpolitische Fragen, sondern um einen "Machtstreit" mit der Sozialdemokratie und um die Erhaltung der "bürgerlichen Ordnung".

Im Verlauf des Dezembers schwenkt der Senat auf die Position der Arbeitgeber ein: Polizisten sprengen Versammlungen, untersagen Spendensammlungen, beschlagnahmen Streikgelder, nehmen Streikende fest. Kurz vor Weihnachten fordert der Senat dann die Arbeiter auf, den Ausstand unverzüglich zu beenden.

Im Februar bricht der Streik zusammen

Sandtorhafen, etwa 1889: Seeschiffe liegen umringt von kleineren Schuten an der Kaimauer, dahinter die gerade errichtete Speicherstadt. © Hamburger Hafen und Logistik AG
Auch im Sandtorhafen halten im Januar 1897 immer mehr auswärtige Streikbrecher den Betrieb aufrecht.

Mitte Januar 1897 wird der "Belagerungszustand" verhängt: Arbeiter dürfen sich nicht mehr versammeln, den Hafen nicht mehr betreten, keine Flugschriften mehr verbreiten. Nachdem verschiedene Vermittlungsversuche scheitern, steht der Streik Ende Januar vor dem Ende. Die Spenden reichen für die inzwischen beinahe 17.000 Streikgeld-Empfänger nicht mehr aus. Außerdem sind die Streikbrecher längst eingearbeitet, stehen den Unternehmern genug weitere auswärtige Arbeitswillige zur Verfügung. Deshalb geben die Streikenden am 6. Februar schließlich auf.

Hartes Vorgehen der Behörden

Enttäuschte Arbeiter liefern sich in der Neustadt tagelang blutige Straßenschlachten mit der Polizei. Sie haben nichts mehr zu verlieren. Denn die Reeder und Kaufleute nutzen ihren Sieg gründlich aus. Sie stellen nur wenige der Streikenden wieder ein - für geringeren Lohn. Und dies auch nur, wenn sie aus der Gewerkschaft austreten. Außerdem werden mehr als 500 Arbeiter wegen Aufruhrs und Bedrohung zu Gefängnis- und Geldstrafen verurteilt.

Als Konsequenz aus dem Streik fordern konservative Politiker in Berlin ein härteres Vorgehen gegen die Sozialdemokraten. General Waldersee will noch immer gegen die Arbeiterpartei losschlagen. Aber eine Gesetzesvorlage, die die SPD durch Androhung hoher Strafen einschüchtern soll, scheitert im Reichstag, in dem die Konservativen keine Mehrheit haben.

Tarifverträge verhindern weitere Arbeitskämpfe

In Hamburg setzt der Senat als Folge des Arbeitskampfes immerhin eine Kommission ein, die die Verhältnisse im Hafen untersuchen soll. Ihr Bericht, der die Missstände schon bald schonungslos aufdeckt, gilt Liberalen als späte Rechtfertigung für den Streik. Zwar kommt es in der Folge zu einigen Erleichterungen, verbilligten Fährpreisen etwa, aber der Neun-Stunden-Tag wird erst 1912 eingeführt.

Auch die Löhne, eine Hauptforderung der Streikenden, erhöhen nur manche Arbeitgeber, etwa die Hapag und die großen Lagerhausgesellschaften. Trotz aller Vorbehalte erkennen sie jedoch nach und nach die Gewerkschaften als Verhandlungspartner an und arbeiten mit ihnen bis zum Ersten Weltkrieg Tarifverträge für die Hafenarbeiter aus, sodass weitere große Arbeitskämpfe für Jahrzehnte ausbleiben.

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Blick auf den Hamburger Hafen im frühen 19. Jahrhundert. © picture-alliance / Mary Evans Picture Library

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Hamburg Journal | 22.04.2019 | 19:30 Uhr

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