Die letzte Tänzerin des Flora-Theaters
Es hatte Helga Bischoff 1946 nach Hamburg verschlagen, sie war mit ihrer Mutter aus Ostpreußen geflohen. In der Mönckebergstraße sah die 19-Jährige ein Plakat, "Gräfin Mariza" stand darauf. Sie kannte das Stück aus ihrer Heimat, in Königsberg. Sie konnte tanzen, hatte eine klassische Ausbildung. Also fuhr sie mit der Straßenbahn für zehn Pfennige zum Schulterblatt. Ein Portier im Anzug stand vor dem frisch gestrichenen Theater. Sie fragte nach einem Kollegen aus Königsberg, dessen Namen sie auf dem Plakat gelesen hatte. Nach kurzem Gespräch - "Wie hast du überlebt? Wer ist umgekommen?" - ging es gleich zum Balletttraining in den Keller der Flora. Bereits am Abend stand sie auf der Bühne.
Ein ausgehungertes Publikum
Von nun an gehörte Helga Bischoff zum Ensemble des Flora-Theaters. Von 1946 bis 1952 erlebte sie das glanzvolle Finale eines Etablissements, das mehr als ein halbes Jahrhundert zu den ersten Häusern in Deutschland gehörte, wenn es um Varieté und Operette ging. Das Publikum war ausgehungert in jeder Hinsicht: Nach den Bomben, den vielen Toten und dem harten Alltag wollten die Menschen etwas anderes erleben, etwas Schönes. So stellten sie sich schon morgens an der Flora-Kasse an, um eine Karte zu ergattern.
Theater: Helga Bischoffs große Liebe
Der große Saal im Theater hatte einen Himmel aus Fallschirmseide. Nach der Vorstellung wurden die Akteure in Ermangelung von Blumen mit ein paar Scheiben Brot, einem Stück Käse oder sogar einem Räucherhering bedacht. Helga Bischoff liebte das Theater, sie hatte ihren Platz gefunden. Wenn die anderen in der Mittagspause auf den Schwarzmarkt in der Susannenstraße gingen, blieb sie lieber in der Flora. Das Theater hatte während des Kriegs leer gestanden, und auch jetzt waren die Verhältnisse primitiv, die winzigen Garderoben und der Ballettsaal hatten keine Fenster, und kalt war es auch. Und trotzdem: Die Zeit am Flora-Theater war ein Traum. In mehr als 30 Operetten tanzte Helga Bischoff.
Konkurrenz durch das Operettenhaus auf der Reeperbahn
Während des Sommers war das Flora-Theater geschlossen. Statt zu tanzen, beseitigten Helga Bischoff und die anderen Tänzerinnen während dieser Zeit Trümmer. Mitte der 50er-Jahre ging es mit dem Flora-Theater bergab. Helga Bischoff führt das auf die neue Konkurrenz zurück, das Operettenhaus an der Reeperbahn. Am Schulterblatt reagierte man mit dem Engagement des Superstars Johannes Heesters: ein gut aussehender Mann mit Lederjacke und rotem Sportauto. Der Star soll eine Abendgage von 2.000 Mark erhalten haben, Helga Bischoff hingegen verdiente 175 Mark im Monat. Den Vertrag verwahrt sie noch heute in ihrer dicken Mappe mit Erinnerungen. Als das Flora-Theater endgültig schloss, rauschte Heesters mit seiner "dicken Brieftasche davon, wir mussten zum Arbeitsamt", erinnert sie sich.
Das Ende des Flora-Theaters
Helga Bischoff war tieftraurig, als es mit der Flora zu Ende ging. Erst wurde das Haus zum Kino umgebaut, 1964 zog ein Haushaltswarengeschäft ein. Als Bischoff sich einmal in das Gebäude verirrte, traf sie fast der Schlag: Kühlschränke und Kochherde auf der Bühne, wo sie einst mit Johannes Heesters getanzt hatte! "Da bekam ich das Weinen", erinnert sie sich. Ende der 80er-Jahre gab es Überlegungen, an dem Standort das Musical "Phantom der Oper" aufzuführen. Aber die Flora-Pläne von "Cats"-Produzent Friedrich Kurz scheiterten am Protest der Szene im Schanzenviertel. Seit 1989 befindet sich hier das linksautonome Kulturzentrum Rote Flora. Die Reste des ehemaligen Flora-Theaters sind weit entfernt von dem, was Helga Bischoff als schön bezeichnen würde. Heute lebt sie von einer kleinen Rente in Hamm. Gern erinnert sie sich an die Zeiten am Flora-Theater zurück: "Da habe ich meinen ganzen Kummer weggetanzt."