Große Pipeline-Rohre liegen auf Gestellen in einer Fabrikhalle. © dpa-Bildfunk Foto: Jens Büttner

Nord-Stream-Anschläge und Völkerrecht: "Da ist vieles gar nicht geklärt"

Stand: 26.05.2024 06:00 Uhr

Nach dem Stopp der Ermittlungen zu den Nord-Stream-Anschlägen in Dänemark und Schweden ist fraglich, ob nun die deutschen Ermittler allein das Rätsel um die Explosionen lösen können oder wollen. Selbst wenn die Täter am Ende überführt werden - eine völkerrechtliche Bewertung der Sabotage-Akte ist laut Experten jedenfalls schwierig.

von Martin Möller, Henning Strüber

Bei den Sprengungen der Nord-Stream-Pipelines im September 2022 handelte es sich um einen schwerwiegenden Angriff auf die kritische maritime Infrastruktur. Darin sind sich die Regierungen in Deutschland, Dänemark und Schweden einig. Ebenso unstrittig ist, dass die betroffenen Staaten auf diese Art von Sabotage reagieren dürfen. Die entscheidende Frage ist: auf welcher rechtlichen Grundlage? "Da ist einfach vieles gar nicht geklärt, gerade weil diese Konstellation so schwierig ist", sagt Christian Schaller, Experte für Völkerrecht, der bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin auch zum Thema Spionage vor Europas Küsten forscht, im Interview mit dem NDR in MV. Die Fachdiskussion drehe sich unter anderem auch um die Frage, ob sich der betroffene Staat auf Artikel 51 der UN-Charta berufen könne. Dieser spricht UN-Mitgliedstaaten im Falle eines "bewaffneten Angriffs" das "naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung" zu.

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Parallelen zu Diskussion um Attacken auf Cyber-Infrastruktur

Obwohl die Diskussion im Falle von Pipeline-Sabotage noch am Anfang stehe, lassen sich laut Schaller gewisse Parallelen zu Attacken auf Cyber-Infrastruktur ziehen. Auch dort geht es um rote Linien. Ab wann ist die Sabotage juristisch als "bewaffneter Angriff" zu bewerten? "Da hat man sich international weitgehend darauf verständigt, dass man dies dann als gegeben annimmt, wenn die Folgen eines Angriffs äquivalent sind zu denen eines konventionellen Angriffs." Als Beispiele nennt der Völkerrechtler etwa eine Reaktorschmelze in einem Atomkraftwerk oder eine Explosion auf einer Bohrinsel als unmittelbare Folgen von Cyber-Attacken.

Welcher Staat ist wie stark betroffen?

Doch diese Cyber-Angriffsszenarien ließen sich nicht ohne Weiteres übertragen, meint Schaller. Bei einer Pipeline oder einem unterseeischen Datenkabel müssten unter anderem folgende Voraussetzungen erfüllt sein: "Wir brauchen zum einen hinsichtlich der Zielrichtung des Angriffs den Anknüpfungspunkt zu einem Staat." Zudem müsse auch eine "gewisse Einwirkungsschwelle" überschritten sein. Im Falle der Sabotage an den Nord-Stream-Pipelines sei die Bewertung schwierig. Denn welcher Staat ist wie stark betroffen? Der Staat, vor dessen Küste der Tatort liegt? Oder die Staaten, die den Bau und Betrieb der Pipeline genehmigt haben - beziehungsweise jene Staaten, in denen die Betreiberunternehmen ihren Sitz haben? Die Staaten, die das Gas nutzen? Erschwerend kommt hinzu: Die Sabotageakte haben sich knapp außerhalb der Hoheitsgewässer Dänemarks und Schwedens zugetragen - nämlich in den sogenannten Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ). Das ist der Bereich, der jenseits von 12 Seemeilen bis zu 200 Seemeilen von der Basislinie der Küste entfernt liegt.

Nord-Stream-Sabotage: "Würde das nicht als Fall der Selbstverteidigung ansehen"

Und obwohl in Deutschland in Folge der Nord-Stream-Anschläge angesichts einer drohenden Energiekrise mit immensem Aufwand die Energieversorgung umgestellt wurde, seien die Auswirkungen eher mittelbar gewesen und hätten keine direkten Schäden für die Bevölkerung mit sich gebracht, zumal die Leitung zum Zeitpunkt des Anschlages bereits außer Betrieb war. Es komme gerade auf die unmittelbaren physischen Auswirkungen an. Das sei zumindest in der Debatte um Cyber-Attacken der dominierende Standpunkt gewesen, so Schaller. "Deswegen bin ich bei Nord Stream sehr vorsichtig. Ich würde das nicht als Fall der Selbstverteidigung ansehen."

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Am Ende könnte neues Völkergewohnheitsrecht entstehen

Nichtsdestotrotz könnten die Nord-Stream-Sabotage und ähnliche Fälle dazu beitragen, dass möglicherweise neues Recht entsteht, meint Schaller. Im Cyber-Bereich passiere dies gerade. Immer mehr Staaten dokumentieren ihre Rechtsauffassung zur Anwendbarkeit des Völkerrechts auf Sachverhalte im Cyber-Raum. Dabei geht es generell auch um die juristische Einstufung von Cyber-Attacken. Wenn Staaten dann tatsächlich in konkreten Situationen reagieren, entwickele sich eine Staatenpraxis. "Und dann kann man irgendwann von der Entstehung von Völkergewohnheitsrecht sprechen", so Schaller.

NATO noch ohne rote Linie

Bei Pipeline- und Datenkabel-Sabotage sei dies aber noch nicht der Fall. Das liege daran, weil die Vorfälle bislang noch relativ überschaubar sind und weil sich Staaten bisher dazu kaum geäußert oder verhalten haben. "Auch die NATO hat bisher keinerlei rote Linien gezogen, ab wann sie von einem Fall der kollektiven Selbstverteidigung im Sinne von Artikel 5 des NATO-Vertrages ausgeht. Das ist völlig offen. Und die NATO will da, glaube ich, auch nicht ausrechenbar sein", so Schaller.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern | 26.05.2024 | 12:00 Uhr

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