VIDEO: Nord-Stream-Anschläge: kommt die Wahrheit jemals ans Licht? (6 Min)

Nord-Stream-Anschläge: Darum drehen sich die Ermittlungen im Kreis

Stand: 28.05.2024 10:45 Uhr

Dänemark hat die Untersuchungen zur Ursache der Nord-Stream-Sprengungen gestoppt. Die umfangreichen Ermittlungsergebnisse zu den Anschlägen bleiben geheim. Für die meisten Dänen kein Problem. Sie bewegt mehr der schlechte Zustand der Ostsee und das Ende der Bornholmer Fischerei. Aber vielleicht hängt alles ein Stück weit zusammen.

von Martin Möller, Henning Strüber

Wer von Mukran auf Rügen mit der Fähre in die Bornholmer Inselhauptstadt Rønne übersetzt, kann den Wandel kaum übersehen. Neue Molen sind entstanden, riesige Hallen und 15 Hektar Fläche, auf der Fundamente für Offshore-Windräder umgeschlagen werden. Das nationale Großprojekt "Energiø Bornholm" braucht Platz für Menschen und Material. Mehrere Windparks sind im Aufbau, eine Wasserstofffabrik geplant. Zur Energieinsel gehören auch eine Hochspannungsleitung und eine unterseeische Wasserstoffleitung, die Bornholm mit Vorpommern verbinden soll. Irgendwo im Seegebiet zwischen den Inseln Bornholm und Rügen werden sie die leeren Gasleitungen Nord Stream 1 und 2 queren. Technisch ist das kein Problem - vielmehr ein Symbol für die Zeitenwende in der Energiepolitik.

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Große Pipeline-Rohre liegen auf Gestellen in einer Fabrikhalle. © dpa-Bildfunk Foto: Jens Büttner

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Bornholmer Fischer-Verband löst sich auf: "Es gibt zu wenig Fisch"

Die meisten Dänen sehen die russisch-deutsche Investitionsruine Nord Stream ohne große Emotionen. Viel mehr bewegt sie das Ende der Insel-Fischerei. Am 10. Mai dieses Jahres hat sich der Verband der Inselfischer aufgelöst - nach 141 Jahren. Ein sichtlich niedergeschlagener Verbandschef Thomas Thomsen sagte "Danmarks Radio": "Das Geschäft lohnt sich einfach nicht mehr. Es ist viel zu wenig Fisch in den Gewässern und die vorhandenen Tiere sind zu klein oder von Parasiten befallen." Für die Bornholmer Fischer war der Dorsch Brot- und Butterfisch. Seine Kinderstube liegt direkt vor der Küste der Ostseeinsel - dort, wo im September 2022 die Nord-Stream-Pipelines gesprengt wurden. Das war zum Ende der Laichzeit.     

Giftige Sedimentwolken in der Ostsee nach Nord-Stream-Anschlägen

Laut einer Untersuchung der Universität Aarhus haben die Explosionen riesige Umweltschäden verursacht. Das tagelang ausströmende Gas wirbelte rund 250.000 Tonnen mit Schwermetallen kontaminiertes Sediment auf. Einen Monat brauchten die unterseeischen Giftwolken, bis sie sich wieder auf dem Grund absetzten. Hohe Konzentrationen an Blei und Tributylzinn (TBT) haben die Forscher um Hans Sanderson nachgewiesen. TBT ist ein Umweltgift, das in Schiffsanstrichen verwendet wird. Dorsch-Eier schweben im Wasser. Sie sind auf stabile Temperaturen und Salzschichtungen angewiesen. Werden diese zerstört, sinken die Eier auf den Meeresboden und sterben ab. "Zusammen mit anderen Faktoren haben die Sedimentwolken die Fortpflanzung des Dorsches in dieser und der vergangenen Saison beeinflusst", so Sanderson auf NDR Nachfrage. Wie genau, müsse aber noch weiter erforscht werden. Auch durch den immensen Ausstoß des klimaschädlichen Treibhausgases Methan sind Umweltschäden entstanden.

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Sprengungen: Dänemark und Schweden ermitteln nicht mehr

Umso überraschender war die knappe Pressemeldung der Kopenhagener Polizei und ihres Nachrichtendienstes PET am 26. Februar dieses Jahres. Kernbotschaft: Die Untersuchungen zur Ursache der Sprengung der Gasleitungen Nord Stream 1 und 2 werden nicht weitergeführt. Es seien sehr komplexe Untersuchungen gewesen, an denen mehrere Behörden beteiligt waren. Allerdings fehle eine konkrete Person, die in Dänemark angeklagt werden könne, hieß es. Ähnlich hatte kurz zuvor schon die schwedische Staatsanwaltschaft argumentiert, als sie die Einstellung ihrer Ermittlungen verkündete.

"Nun sitzen die Deutschen mit dem Affen an"

Der dänische Historiker Thomas Wegener Friis © Screenshot
"Dänemark ist raus aus dem Schlamassel", meint der dänische Historiker und Geheimdienstexperte Thomas Wegener Friis.

Für Thomas Wegener Friis, Geheimdienstexperte und Historiker an der süddänischen Universität in Odense, ist der Fall Nord Stream ein Spiel ohne Gewinner - jedenfalls aus dänischer Sicht. "Weiteres Konfliktpotential mit Russland braucht man nicht und Ärger mit der Ukraine eigentlich auch nicht. Daher war es eine goldene Gelegenheit, sich mit juristischen Spitzfindigkeiten herauszureden." Nun hätten die Deutschen den Schwarzen Peter, oder wie man in Dänemark sagt: "Nun sitzen die Deutschen mit dem Affen an." Laut Wegener Friis genießen die dänische Polizei und ihr Geheimdienst PET höchstes Vertrauen in der Bevölkerung. Auch deshalb habe es in der Öffentlichkeit kaum kritische Nachfragen oder gar Empörung wegen des Ermittlungs-Stopps gegeben.

Ein Akt vorsätzlicher Sabotage

Eine Ausnahme ist Bo Elkjær von der linken dänischen Tageszeitung "Information". Der erfahrene Investigativ-Reporter beschäftigt sich seit September 2022 intensiv mit den Anschlägen. Er hat weiter viele Fragen. Wie viele Beamte welcher Behörden haben recherchiert? Was passiert mit den Akten? Die Regierung lieferte keine weiteren Erklärungen - nur soviel: Es war ein Akt vorsätzlicher Sabotage. Die Einsilbigkeit der Behörden ist auch deshalb bemerkenswert, weil das Seegebiet rund um Bornholm gut überwacht wird. Östlich der Insel sind regelmäßig Schiffe und Flugzeuge der polnischen, dänischen, schwedischen und auch deutschen und russischen Marine unterwegs. Die russische Exklave Kaliningrad liegt vor der Haustür.

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112 Fotos russischer Schiffe bleiben unveröffentlicht

Die dänische Marine hatte vier Tage vor den Explosionen russische Schiffe in der Nähe eines der Tatorte beschattet und dies dem Journalisten Elkjær auf Nachfrage bestätigt. Demnach existieren 112 Fotos der russischen Schiffe, die aber nie veröffentlicht wurden. Am Ende wisse die Öffentlichkeit nicht viel über die Ermittlungen, obwohl die Polizei, mehrere Abteilungen des Geheimdienstes und auch die Streitkräfte mit dem Fall befasst waren, so Elkjær im Interview mit dem NDR. "Das ist schon frustrierend. Wir wollen doch wissen, wer das getan hat und diese Leute vor Gericht bringen."

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Russland fordert Beteiligung an Ermittlungen

Historiker Wegener Friis glaubt, dass der Geheimdienst der Polizei mehr Informationen besitzt, als er offiziell verkündet. Der NSA-Skandal 2021 habe gezeigt, dass Dänemark seine Fähigkeiten zur Aufklärung ausgebaut hat. "Es ist vielleicht gut zu wissen, wo welche Schiffe zu welchem Zeitpunkt waren, aber noch besser ist es, E-Mails mitzulesen und Telefongespräche abzuhören." Allerdings seien die dänischen Geheimdienste auch dafür bekannt, dass sie die eigenen Fähigkeiten ungern zur Schau stellen. Auch deshalb wollten sie Russland bei den Nord-Stream-Untersuchungen nicht dabei haben. Das kritisiert die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, immer wieder, so erst wieder am 21. Mai. Der Stopp der Ermittlungen bestätige das mangelnde Interesse Kopenhagens und Stockholms, für Aufklärung zu sorgen, so Sacharowa. Russische Anträge auf Rechtshilfe seien wiederholt abgelehnt worden.

Generalbundesanwalt mit anderen Ermittlungsbehörden im Austausch

Eine Karte mit den Nord-Stream-Gaslecks sowie den Gebieten, in denen Kampfstoffe versenkt wurden und Sedimentwolken aufgestiegen sind. © NDR Foto: NDR
Die Explosionen an den Nord-Stream-Pipelines vor Bornholm haben giftige Sedimentwolken ausgelöst.

Über die russischen Ermittlungen ist nichts bekannt. Im Staatsfernsehen "Erster Kanal" wurden erst Großbritannien, später die USA und zuletzt die Ukraine und die NATO beschuldigt. Der deutsche Generalbundesanwalt Jens Rommel wiederum ließ dem NDR auf Anfrage zum Stand der Ermittlungen mitteilen: "Die Bundesanwaltschaft steht mit den Ermittlungsbehörden anderer Staaten im Austausch." Zu Details der internationalen Zusammenarbeit sowie zur Anzahl der mit den Untersuchungen befassten Personen äußere man sich grundsätzlich nicht. "Aufgrund der laufenden Ermittlungen können keine weitergehenden Auskünfte erteilt werden."

Zweifel an "Andromeda"-Theorie

Vielleicht werden die Ermittlungen auch in Deutschland irgendwann sang- und klanglos eingestellt. Nach wie vor soll die Segeljacht "Andromeda" im Fokus der Ermittler stehen, die von Rostock in See gestochen ist. Investigativ-Journalist Elkjær, der so ziemlich alle Fakten rund um die Anschläge im Kopf hat, hält die "Andromeda"-Theorie für wenig überzeugend. Laut dieser Theorie stecken ukrainische Drahtzieher hinter den Anschlägen, die von der gleichnamigen Segeljacht aus ausgeführt worden sein sollen: "Man muss sich den Schiffsverkehr und die Wetterverhältnisse in der Zeit angucken", meint Elkjær. Die "Andromeda" sei am 6. September ausgelaufen und am 23. September zurückgekehrt. "Das ist eine lange Zeit mit schwierigen Verhältnissen auf See, starkem Wind und hohen Wellen. Ein kleines Boot, mit schwerem Equipment und am Ende blieb nach meiner Überzeugung nur ein Zeitfenster von einem Tag, um vier äußerst anspruchsvolle Tauchgänge zu erledigen." Zumal die Explosionsorte mehr als 70 Kilometer voneinander entfernt lagen.

Seiner Ansicht ist es deshalb sehr unwahrscheinlich, dass die Anschläge von der Segeljacht "Andromeda" ausgeführt wurden - ohne dabei auch noch entdeckt zu werden. Laut Elkjær hatte Russland kurz vor den Anschlägen sechs Schiffe im Seegebiet. Darunter das Spezialschiff "SS-750" - mit Mini-U-Boot an Bord und zwei moderne Mehrzweckschlepper, die in 70 bis 80 Metern Tiefe Operationen ausführen können, da sie mit Druckkammer und Bordkran ausgestattet sind. "Wenn ihr mich fragt, dann weiß ich, in welche Richtung der Pfeil zeigt", so Elkjær.   

"Legt alle Fakten auf den Tisch!"

Ganz so weit mag sich Wegener Friis nicht aus dem Fenster wagen, aber der militärische Nachrichtendienst Dänemarks (FE) habe kurz nach der Einstellung der Nord-Stream-Ermittlungen seinen Jahresbericht zur Bedrohung der Nation vorgestellt. "Darin wird ausdrücklich vor russischen Fähigkeiten gewarnt, Unterwasser-Infrastruktur zu sabotieren. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang, vielleicht ist es Zufall", so der Geheimdienstexperte. Der Journalist Elkjær fordert seine Regierung zur Transparenz auf: "Legt alles auf den Tisch! Dann können wir uns die Fakten anschauen und analysieren, eigene Schlussfolgerungen ziehen."

Nord Stream wird als deutsches Problem gesehen

Nahaufnahme einer Dorschlarve (Gadus morhua) © Fredrik Jutfelt Foto: Fredrik Jutfelt
Die im Zuge der Nord-Stream-Explosionen aufgetretenen giftigen Sedimentwolken haben laut Forschern die Fortpflanzung des Dorsches in der Ostsee beeinträchtigt.

Aber die großen dänischen Tageszeitungen beschäftigen sich kaum mit dem Thema Nord Stream. Die Öffentlichkeit sieht die Angelegenheit eher als deutsches Problem. Wegener Friis glaubt nicht, dass sich die Stimmung noch drehen könnte. "Wenn es in der dänischen Politik Parteien geben würde, die im Ukraine-Konflikt pro-russisch wären, dann könnten die das Thema nach vorne tragen, aber eine solche pro-russische Partei gibt es einfach nicht und auch keinen großen Markt für Konspirationstheorien." Was hierzulande weitgehend unbeachtet blieb: Die dänischen Nord-Stream-Ermittlungen wurden offiziell nur gestoppt, nicht aber beendet. Sollten sich neue Anhaltspunkte auf mögliche Täter ergeben, könnten sie jederzeit wieder aufgenommen werden.

Dänische Energie ersetzt russisches Gas

Der Fall Nord Stream liefert also weiter reichlich Raum für Spekulationen und Verschwörungstheorien. Eindeutiger sind die Fakten beim Verschwinden des Dorsches. Hauptursachen sind laut Universität Aarhus die Überfischung und der Nährstoffeintrag in den vergangenen Jahrzehnten. Selbst wenn die Ostsee-Anrainer den Stickstoffeintrag sofort um 30 Prozent reduzierten, würde es 400 Jahre dauern, bis sich die Ostsee wieder vollständig erholt hat, schätzt der Meeresbiologe Stiig Markager. Auch deshalb kommen den Bornholmern die neuen, gut bezahlten Energiejobs gerade recht. In ein paar Jahren werden sie Strom und Wasserstoff nach Deutschland liefern und damit auch ein Stück weit die Energie-Lücke stopfen, die Nord Stream hinterlassen hat. 

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern | 26.05.2024 | 12:00 Uhr

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