Nord-Stream-Anschläge: Neue Spuren von Rostock in die Ukraine
Ein Jahr nach den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines haben deutsche Behörden mehrere Tatverdächtige identifiziert - in der Ukraine. Gestartet war ein verdächtiges Segelboot in Rostock.
Viele Monate war es ein gut gehütetes Geheimnis geblieben, dass Rostock eine besondere Rolle bei den Ermittlungen zu den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines gespielt hatte. Bereits im Oktober 2022, also nur wenige Tage nach den Explosionen, hatte ein Hinweis aus dem Ausland zuerst die deutschen Nachrichtendienste und dann die Bundesregierung erreicht.
Es gebe Hinweise darauf, dass ukrainische Spezialkräfte hinter dem Anschlag steckten. Mit einem Schiff sollen sie raus auf die Ostsee gefahren sein. Und zwar von Rostock aus. Die Ermittler machten sich an die Arbeit und suchten das Schiff. Es dauerte dann noch bis März 2023, bis erstmals die Öffentlichkeit davon erfuhr, dass ein Boot gefunden war: die Segeljacht "Andromeda".
Internationale Recherche verfolgt Spur in die Ukraine
Auch ein Jahr nach den Anschlägen steht dieses Schiff im Mittelpunkt der deutschen Ermittlungen, schließlich waren an Bord sogar Sprengstoffspuren festgestellt worden. Vom Boot ausgehend stießen die Ermittler dann auf mehrere verdächtige Personen - in der Ukraine. Was aber hat sich damals, mehr als 70 Meter tief auf dem Grund der Ostsee, abgespielt? Dazu hat ein Team von ARD, "Süddeutscher Zeitung" und "Die Zeit" gemeinsam mit internationalen Medienpartnern recherchiert, in Deutschland, in Dänemark, in Schweden, in den Niederlanden, in Polen und in der Ukraine.
Weiterer Stopp im schwedischen Sandhamn
Nach dem Auslaufen in Rostock soll die "Andromeda" etwa zweieinhalb Wochen unterwegs gewesen sein. Die Crew soll in Wiek auf Rügen, im dänischen Christiansøe und im polnischen Kolberg gehalten haben. Wie die neuen Recherchen jetzt zeigen, legte das Schiff offenbar auch noch einen bislang öffentlich nicht bekannten Stopp im schwedischen Sandhamn ein - außerdem womöglich einen weiteren auf der dänischen Insel Bornholm. Weshalb sie die Häfen ansteuerten, ist bislang unklar.
Die Reporterinnen und Reporter fanden einen deutschen Segler, der offenbar zur selben Zeit in Sandhamn festgemacht hatte. Er sagt, er habe damals fünf Männer und eine Frau beobachtet: "Zwei Herren mit kurzen Haaren, militärisch würde ich sagen", so beschreibt er einen Teil der Crew. Die Frau wiederum sei zierlich, etwa 1,65 Meter groß gewesen, mit braunen Haaren. Auch aus anderen Häfen gibt es Schilderungen von jenen, die die Crew gesehen haben wollen: Die Männer und die Frau wurden als eher unfreundlich und wenig hilfsbereit beschrieben.
Recherche bringt neue Details über die Verdächtigen zutage
Durch die neue Recherche wird jetzt erstmals mehr über Verdächtige bekannt - und diese Spur führt tatsächlich in die Ukraine, ganz so wie es im ersten Hinweis nach der Tat vermutet wurde. Eine wichtige Rolle für die Ermittler spielt aktuell der Ukrainer Maxim B. Den Namen haben wir aus Sicherheitsgründen geändert. Von einem Google-Mail-Konto, das Sicherheitsbehörden mit ihm in Verbindung bringen, soll die Mail für die Anmietung der "Andromeda" verschickt worden sein.
Verdächtiger weist Vorwürfe zurück
Maxim B. soll für eine Firma arbeiten, die auch Aufträge vom ukrainischen Staat bekommt. Er organisiert offenbar maritime Dienstleistungen. In einem Telefonat mit dem Rechercheteam von ARD, SZ und ZEIT dementierte er jedoch die Vorwürfe. Er habe die "Andromeda" jedenfalls nicht angemietet, so der Mann: "Ich habe keine Ahnung", sagte er. Deutsche Ermittler bleiben offenbar skeptisch.
Bei der Anmietung sollen Kopien zweier verfälschter Pässe an die deutsche Charterfirma in Rostock übermittelt worden sein. Ein Pass war offenbar auf den Namen "Mihail Popov" ausgestellt. Doch dabei handelt es sich wohl um eine falsche Identität. Dieser mutmaßliche Skipper der Segeljacht soll auch bei einer Kontrolle im polnischen Kolberg durch die Küstenwache als Crewmitglied registriert worden sein.
Spurensuche in der Ukraine
Das Foto auf dem zweiten bei der Anmietung vorgelegten Pass soll eine Person namens "Stefan Marcu" zeigen - doch Ermittler haben herausgefunden, dass darauf wohl der Ukrainer Walerij K. abgebildet ist. Zunächst dachten die deutschen Ermittler, dass K. vielleicht auf dem Schiff gewesen sei. Doch ein DNA-Abgleich von Spuren auf dem Schiff mit seinem familiären Umfeld in Frankfurt/Oder ergab keinen Treffer. Als Reporter bei der Familie nach einer möglichen Beteiligung von K. an den Nord-Stream-Anschlägen fragten, hieß es: "Er ist unschuldig und das wird sich bald zeigen."
Das Recherche-Team aus ARD, SZ und ZEIT hat schließlich auch im ukrainischen Dnipro mit dem Bruder und der Großmutter des Ukrainers sprechen können. Die Großmutter sagte, Walerij K. kämpfe derzeit an der Front gegen die Russen und melde sich nur selten per Telefon: "Er bekommt derzeit viel Druck." Inzwischen sollen deutsche Ermittler die Möglichkeit gehabt haben, mehr über K. und seine Sicht auf die Dinge zu erfahren. Demnach habe er seine Unschuld beteuert. Wurde seine Identität vielleicht nur von jemandem für die Anmietung gestohlen?
Überprüfen lässt sich das bislang nicht. Deutschland und die Ukraine tauschen sich bei den Ermittlungen nicht eng aus. Sowohl die Bundesregierung als auch die ukrainische Regierung ließen Anfragen unbeantwortet. Die Regierung in Kiew hatte eine Beteiligung stets dementiert. Dabei gibt es noch mindestens einen weiteren Ukrainer, der in den Ermittlungen eine wichtige Rolle spielt.
Ukrainischer Geschäftsmann im Visier
Die "Andromeda" soll im vergangenen Herbst über eine polnische Briefkastenfirma angemietet worden sein. Wie die Recherche nun zeigt, soll hinter der Firma der ukrainische Geschäftsmann Rustem A. stehen. Das geht unter anderem aus ukrainischen Justizunterlagen hervor. Als die Reporter den Mann in der ukrainischen Hauptstadt Kiew ausfindig machen und zu einer möglichen Rolle bei den Anschlägen auf Nord Stream befragen, will sich Rustem A. nicht äußern. "Ich möchte nicht mit Ihnen sprechen", sagte der Ukrainer. "Schauen Sie mal, kennen Sie Prostituierte? Ich assoziiere Journalisten mit Prostituierten, verstehen Sie? Ich treffe mich nicht mit Prostituierten."
In mehreren Ländern, darunter Deutschland, Schweden, Dänemark und Polen, laufen derzeit Ermittlungen wegen der Anschläge auf die Nord-Stream-Pipelines. "Die Identität der Täter und deren Tatmotive sind Gegenstand laufender Ermittlungen", so teilte der ermittelnde Generalbundesanwalt auf Anfrage mit. Noch wird das Verfahren gegen Unbekannt geführt. Es gibt keinen Haftbefehl.
Experten: Anschlag mit der "Andromeda" möglich gewesen
Im Rechtsausschuss des Bundestages berichtete Generalbundesanwalt Peter Frank in der vergangenen Woche, dass es bislang nicht gelungen sei, die Besatzung der "Andromeda" zweifelsfrei zu identifizieren. Man gehe jedoch davon aus, dass professionelle Taucher Sprengsätze an den Pipelines angebracht hätten - und dass die "Andromeda" nach Ansicht der Ermittler etwas mit der Ausführung der Tat zu tun gehabt habe. Eine solche Operation sei auch mit einem Segelboot wie der "Andromeda" möglich gewesen - zu diesem Fazit kamen auch Sachverständige.
Wer tatsächlich an der Tat beteiligt war oder wer die Drahtzieher sind, das ist auch ein Jahr nach den Anschlägen noch unbekannt. Viele Länder wurden bereits dahinter vermutet: vor allem die USA oder Russland. Leisteten vielleicht Norwegen oder Polen dazu noch Hilfe? Viele Theorien sind im Umlauf. Was fehlt, ist ein Beweis. Was es gibt, das sind die Spuren in die Ukraine.
Die "Andromeda" liegt inzwischen wieder in einem Hafen in Rostock. An manchen Stellen des Schiffes gibt es seit der rätselhaften Fahrt im September 2022 tiefe Kratzer.
Eine Recherche von Manuel Bewarder, Pune Djalilevand, Marcus Engert, Florian Flade, Michael Götschenberg, Georg Heil, Amir Musawy, Stella Peters, Reiko Pinkert, Jonas Schreijäg, Holger Schmidt, Sandro Schroeder und Lea Struckmeier