Sabotage am Meeresgrund: Ein Jahr nach den Nord-Stream-Anschlägen
Genau ein Jahr nach den Explosionen an den Ostsee-Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 ist noch immer nicht klar, wer dafür die Verantwortung trägt. Weiterhin ermitteln Behörden sowohl in Deutschland als auch in Schweden und Dänemark.
Im September 2022 rückt der Ukrainekrieg urplötzlich und unvermittelt ganz nah an Mecklenburg-Vorpommern heran. Nur 120 Kilometer von Rügens Kreidefelsen entfernt explodiert eine Sprengladung an der Nord-Stream-2-Erdgasleitung. Mitten in der Nacht am 26. September, um 02.03 Uhr, in knapp 70 Meter Tiefe. Der Krater an der Sprengstelle ist acht Meter tief. Gas, das unter dem Druck von über 115 bar steht, schießt wie aus einer Düse heraus, wirbelt die tonnenschwere Leitung wie einen Gartenschlauch herum, verbiegt zentimeterdicken Spezialstahl wie Alufolie. Nur 17 Stunden später folgen drei weitere Explosionen, diesmal nordöstlich der Insel Bornholm in schwedischen Gewässern. Die Erschütterungswellen sind so gewaltig, dass sie von Seismografen als kleine Erdbeben registriert werden. Drei Tage später entdecken schwedische Marineflieger dann noch ein viertes Leck in der Nord-Stream-2-Leitung. Die Blubber-Bilder gehen um die Welt.
Riesiger Umweltschaden durch Gas und Sediment
Es ist ein beispielloser Anschlag, der verursachte Umweltschaden riesig. Das innerhalb von einer Woche ausgetretene Gas entspricht 32 Prozent des jährlichen CO2-Ausstoßes des gesamten Königreiches Dänemark. Die Explosionen und das ausströmende Gas haben außerdem 250.000 Tonnen mit Schwermetallen kontaminiertes Sediment aufgewirbelt. Einen Monat braucht die unterseeische Giftwolke, bis sie sich wieder auf dem Grund absetzt. Laut einer Forschergruppe der Universität im dänischen Aarhus könnten die Folgen für Tiere und Pflanzen in der Bornholmsee verheerend sein. Dort ist die Kinderstube des Dorsches und dort lebt eine große Population Schweinswale.
Schweigsame Dänen - Gazprom darf selbst ermitteln
Sofort nach dem Anschlag beginnen Spekulationen. Wer ist in der Lage, so eine Kommandoaktion so kaltblütig durchzuziehen? Die skandinavischen Behörden, in deren sogenannten Außenwirtschaftszonen sich die Anschläge ereigneten, halten sich bedeckt. Nach Aufforderung Russlands haben die Dänen im März ein zylindrisches Objekt vom Meeresgrund geborgen, das sich direkt neben einer gesprengten Leitung befand. Russlands Präsident Putin mutmaßte, dass es sich um eine Antenne zur Aktivierung des Sprengsatzes handeln muss. Das mysteriöse Objekt entpuppte sich allerdings als leere Rauchboje. Man verfüge über 112 Fotos, die russische Schiffe in der Nähe der Anschlagsorte kurz vor den Explosionen zeigten, teilte etwas später die dänische Polizei auf Anfrage der Zeitung "Information" mit. Die besagten Fotos mochten die Ermittler aber nicht rausrücken. Die letzte Erklärung der dänischen Polizei stammt vom Juli. Darin heißt es: "Die Untersuchungen sind noch nicht beendet und es ist auch noch nicht abzusehen, wann dies der Fall sein könnte." Die dänischen Behörden erlauben der Nord Stream AG - immerhin eine Tochter des russischen Staatskonzerns Gazprom - eigene Untersuchungen durchzuführen. Hier liegen allerdings noch keine Ergebnisse vor.
Sprengstoff als Fingerabdruck - Schweden will Ermittlungen bald abschließen
Etwas auskunftsfreudiger als die dänische Polizei ist der zuständige schwedische Staatsanwalt Mats Ljungqvist. Anfang April erklärte er: Seine Ermittler hätten die Art des benutzten Sprengstoffs bestimmen und dadurch "eine sehr große Anzahl von Akteuren" ausschließen können. Man könne aber nicht ausschließen, dass eine unabhängige Gruppe hinter dem Anschlag stecke, doch sei es unwahrscheinlich. Die letzte Meldung von Ljungqvist ist wenige Tage alt. Die schwedische Staatsanwaltschaft wolle den Fall möglichst bis Jahresende abschließen. Das bedeutet laut Ljungqvist "den Fall entweder abzuschließen oder Anklage gegen jemanden zu erheben". Gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters bestätigte er die Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden, ohne Details zu nennen.
Umstrittenes Szenario: Ukrainisches Himmelfahrtskommando
In Deutschland ist Generalbundesanwalt Peter Frank zuständig. Er ermittelt wegen des Verdachts einer vorsätzlich eingeleiteten Sprengstoffexplosion sowie wegen verfassungsfeindlicher Sabotage. Seine Ermittler haben vor allem die Segeljacht "Andromeda" im Fokus. Laut Recherchen von ARD, "Süddeutscher Zeitung" und der Tageszeitung "Die ZEIT" ist es gelungen, den Weg eines mutmaßlich sechsköpfigen Geheimkommandos zu rekonstruieren. Fünf junge Männer und eine Frau sind demnach Anfang September 2022 mit der Segeljacht von Rostock aus in See gestochen und über Polen, Schweden und die dänische Insel Christiansø zu den Anschlagstellen gelangt. Eine Firma aus Polen, die Verbindungen in die Ukraine habe, soll das Boot im Auftrag eines ukrainischen Spezialkommandos angemietet haben. Ob die nur 15 Meter lange Yacht für so eine komplexe Operation überhaupt geeignet war, bleibt umstritten. Der dänische Verteidigungsexperte Johannes Riber von der Uni Kopenhagen hat Zweifel. Dazu bräuchte es zusätzliches Equipment wie ein Tiefensonar. Tauchgänge in so großer Tiefe, ohne stabile Plattform, seien zudem ein Himmelfahrtskommando, so Riber, der auch Fregattenkapitän der dänischen Marine ist.
Nord-Stream-Reströhren für LNG-Terminal
Allerdings sollen die deutschen Ermittler Spuren eines militärischen Spezialsprengstoffes an Bord der "Andromeda" sichergestellt haben. Ob es der gleiche Sprengstoff ist, der bei Nord Stream verwendet wurde, ist unklar. Sicher hingegen ist: Auch wenn noch ein Nord-Stream-2-Strang intakt ist, durch die fast zehn Milliarden Euro teure Leitung wird mittelfristig kein Gas fließen - egal, wer für die Sabotage verantwortlich war. Stattdessen soll künftig das umstrittene LNG-Terminal Mukran Erdgas nach Lubmin liefern. Die beim Bau von Nord Stream 2 übrig gebliebenen Röhren werden bereits im Greifswalder Bodden verlegt. Schon im nächsten Frühjahr könnte erstes Gas fließen, das dann aber sehr wahrscheinlich nicht mehr aus Russland kommt, sondern aus den USA oder dem Nahen Osten.