Ein Mann mit Schutzbrille steht mit einer Flex an einer Werkbank, Funken fliegen. © Lebenshilfe Foto: David Maurer

Inklusion auf dem Arbeitsmarkt: "Klima der Ermutigung schaffen"

Stand: 28.05.2024 05:00 Uhr

Um mehr Menschen mit Behinderung in den "normalen" Arbeitsmarkt zu bringen, sei Mut zum Erproben nötig, sagt der Geschäftsführer der Hamburger Arbeitsassistenz, Achim Ciolek. Das gelte sowohl für die Betroffenen als auch für die Unternehmen.

Achim Ciolek ist einer der Geschäftsführer der Hamburger Arbeitsassistenz. Mit dem gemeinnützigen Fachdienst versucht er seit rund 30 Jahren, Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen - also in den "normalen" oder "allgemeinen" Arbeitsmarkt, der ohne Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik auskommt. Die Maxime lautet: "Jeder Mensch hat die Fähigkeit und das Recht zu arbeiten". Anlässlich des Diversity-Tages am 28. Mai erzählt Ciolek im Interview, wie er Menschen mit Behinderung und Unternehmen in Kontakt miteinander bringt - und was die Voraussetzung für eine gelungene Inklusion auf dem Arbeitsmarkt ist.

Im Hinblick auf Menschen mit Behinderung und ihrer Inklusion auf dem Arbeitsmarkt: Klappt das gut oder ist das mit Herausforderungen verbunden?

Der Geschäftsführer der Hamburger Arbeitsassistenz, Achim Ciolek. © Hamburger Arbeitsassistenz
Achim Ciolek von der Hamburger Arbeitsassistenz unterstützt Menschen mit Behinderung, damit sie auf dem "normalen" Arbeitsmarkt Fuß fassen können.

Ciolek: Es gibt immer noch große Herausforderungen. Aber wenn ich die Entwicklung der vergangenen 30 Jahre sehe, dann sind die Förderbedingungen und Unterstützungsmöglichkeiten wesentlich besser geworden. Denn die Grundbedingungen sind deutlich verändert durch die UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 in Deutschland in Kraft ist, und durch die Gesetzgebung im Sozialgesetzbuch.

Was ist aus Ihrer Sicht das Wichtigste, um bei der beruflichen Inklusion von Menschen mit Behinderung noch besser zu werden?

Ciolek: Das Wichtigste ist, dass wir ein Klima schaffen, das Menschen dazu ermutigt, die berufliche Inklusion zu erproben. Und damit meine ich beide Seiten: Zum einen sollten Menschen mit Behinderung es ruhig versuchen, einen Job auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu finden. Zum anderen sind natürlich die Betriebe gefordert. Das betrifft übrigens auch die Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation, die es Menschen mit Behinderungen ermöglichen sollen, einen Job zu finden. Auch da gibt es oftmals das Denken, dass jemand erstmal so fit sein muss, dass er eigentlich keine behinderungsbedingten Einschränkungen mehr hat. Dabei sind wir inzwischen mit der Diskussion um Inklusion und mit der UN-Behindertenrechtskonvention ein ganzes Stück weiter: Das Recht, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Teilhabe zu finden, ist nicht daran gebunden, nicht mehr behindert zu sein.

Eine NDR Umfrage hat im Jahr 2023 ergeben, dass die meisten Firmen lieber Strafe zahlen als gewisse Quoten bei der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung zu erreichen. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Ciolek: Wir haben viel zu viel Distanz zwischen Menschen mit Behinderung, die Arbeit suchen, und den Betrieben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Ein Schlüsselbegriff für die Verbesserung dieser Situation ist "Ermutigung". Deshalb ermutigen wir Personal-Verantwortliche, einen Versuch zu machen mit Menschen mit Behinderung, damit diese - mit entsprechender Unterstützung - auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Fuß fassen können.

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Welche Hürden gibt es, wenn Menschen mit Behinderung in ein Unternehmen wollen?

Ciolek: Viele Betriebe haben für die Einstellung sehr feste Kriterien, um Personen in Vorstellungsgesprächen und Bewerbungsverfahren zuzulassen. Da kommen manchmal Menschen mit Behinderung nicht dran. Und deshalb sind Begegnungen zwischen Menschen mit Behinderung und Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarkts ein Schlüssel, um eine berufliche Integration zu ermöglichen oder zu erproben.

Also Begegnung in welchem Sinne?

Ciolek: Wir führen regelmäßig Praktikum-Erprobungen durch, die auch ergebnisoffen sein können. Dabei unterstützen wir Personen mit Behinderung in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes. Wir nennen uns ja Hamburger Arbeitsassistenz, sodass berufspädagogisches Personal zur Verfügung steht, um die Einarbeitung zu unterstützen und auch dafür zu sorgen, dass der Arbeitsplatz-Zuschnitt individuell angepasst wird auf die behinderungsbedingten Einschränkungen. Es geht darum, dass die individuellen Stärken erkannt werden und die Schwächen nicht so zum Tragen kommen.

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Sehen Sie denn auch Chancen für die Unternehmen, wenn die sich darauf einlassen, Menschen mit Behinderung eine Chance zu geben?

Ciolek: Diversität gehört ja vielfach auch zu den Unternehmenszielen und gewinnt zunehmend an Relevanz, auch um überhaupt Arbeitskräfte zu finden. Es gibt ja aktuell nicht nur einen Fachkräfte-Mangel, sondern auch einen Arbeitskräfte-Mangel. Hier geht es darum, wie man Personen in ihren individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten adäquat auf dem Arbeitsmarkt einsetzen kann.

Gibt es bestimmte Tätigkeits- oder Berufsfelder, die sich aus ihrer Erfahrung heraus besonders gut anbieten?

Ciolek: Als Hamburger Arbeitsassistenz sind wir darauf spezialisiert, insbesondere Menschen mit Lernschwierigkeiten, also kognitiven Einschränkungen, eine verbesserte Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Da sind wiederkehrende Tätigkeiten wesentlich einfacher als eine hohe Anforderung an wechselnde Tätigkeiten. Solche Jobs finden sich oftmals in Arbeitsbereichen wie Dienstleistung, Lager, Hauswirtschaft und Gastronomie. Dort können wir ganz gut Personen platzieren, weil dort einigermaßen wiederkehrende Abläufe vorkommen. Aber ich spreche hier eben nur für einen speziellen Personenkreis. Es gibt ja auch Personen mit hoher Qualifikation mit Körper- und Sinnes-Behinderung, mit chronischen Erkrankungen oder mit psychischer Beeinträchtigung, wo diese Kriterien dann nicht greifen.

Gehen Sie gezielt auf Unternehmen zu? Oder kommen mittlerweile Unternehmen auch zu Ihnen und sagen: "Wir suchen dringend Leute. Können Sie uns jemanden als Praktikanten schicken"?

Ciolek: Aktuell haben wir beides. Es ist noch häufiger so, dass wir auf Betriebe zugehen. Wenn Firmen auf uns zukommen, ist oftmals das Problem, dass die Vorstellungen schon sehr fest sind. Wir reagieren deshalb auch ungern auf Stellenausschreibungen von Unternehmen. Wenn die sagen, sie suchen jemanden für den Bereich Housekeeping, dann sind die Anforderungen schon relativ fest formuliert. Und wir haben ja immer auch die Möglichkeit zu sagen: Wir kommen zu euch mit einem Praktikanten, der das lernen und erproben will, und schaffen einen Arbeitsplatz, der individuell angepasst wird.

Wenn beide Seiten zufrieden sind: Kommt dann ein regulärer sozialversicherungspflichtiger Arbeitsvertrag zustande? Oder sind es eher spezielle Arbeitsverträge?

Ciolek: Wir sind ausschließlich unterwegs mit der Zielsetzung, in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu vermitteln. Wie lange wir für die Qualifizierung und Einarbeitung brauchen, ist individuell sehr unterschiedlich. Aber alle Arbeitsverhältnisse, die wir vermitteln und weiter unterstützen - finanziell und personell - sind entweder ortsüblich oder tariflich entlohnt. Die Arbeitsverträge entsprechen also zumindest dem Mindestlohn oder den tariflichen Bestimmungen der Betriebe, mit denen wir kooperieren.

Das Interview führte Anina Pommerenke.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Aktuell | 28.05.2024 | 06:42 Uhr

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