Flüchtlingsgipfel: Fakten und Herausforderungen
Mittwoch treffen sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder zum Flüchtlingsgipfel. Es geht vor allem um Geld, aber auch um Verteilung und Asylpolitik insgesamt. Wie viele Menschen suchen aktuell Schutz im Norden und vor welchen Herausforderungen stehen die Gemeinden?
Kommen immer noch viele Asylsuchende nach Deutschland?
Ja. Und Experten gehen davon aus, dass es auch so bleibt. Bisher sind in diesem Jahr 101.981 Erstanträge auf Asyl in Deutschland gestellt worden. Davon sind 7,5 Prozent in Deutschland geborene Kinder. Im Vorjahr hatten zwischen Januar und April deutlich weniger, nämlich 57.180 Menschen, solch einen Antrag gestellt. Die meisten Schutzsuchenden kommen aus Syrien, Afghanistan und der Türkei. Syrer und Afghanen werden meist anerkannt, Türken hingegen in der Regel abgelehnt. Von ihnen erhalten nur 16 Prozent einen Aufenthaltstitel.
Seitdem viele Beschränkungen durch die Corona-Pandemie vergangenen Sommer weggefallen sind, erreichen wieder mehr Menschen Deutschland. Experten nennen dies "Aufholmigration". Es kamen also in den vergangenen Monaten auch Menschen hierher, die zwar schon länger nach Deutschland kommen wollten, es bisher aber nicht geschafft haben und in Transitländern lebten. Denn um in Deutschland Asyl zu beantragen, muss man auf deutschem Boden sein. Dieses Prinzip kritisieren Experten immer wieder, denn es führe dazu, dass Menschen sich auf gefährliche Wege begeben müssen.
Auch in Norddeutschland sind in diesem Jahr nach Angaben der Länder mehr Asylbewerber angekommen als im Vorjahr. Nach Hamburg kamen im März zum Beispiel 499 Menschen, die auch eine öffentliche Unterkunft brauchten (Vorjahr: 274). Schleswig-Holstein erreichten 549 (Vorjahr: 229), Mecklenburg-Vorpommern 460 Menschen (Vorjahr: 287). Nach Niedersachsen kamen 1.603 Asylsuchende (Vorjahr: 1.448).
Welche Rolle spielen ukrainische Geflüchtete?
Ende April lebten 1.063.658 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland. Das sind zwar etwa so viele wie Ende 2022. Die Situation ist aber dynamisch, das heißt, Ukrainer kehren in die Heimat zurück, andere kommen erstmals nach Deutschland und brauchen Unterkunft und Sozialleistungen. Die Gruppe der geflüchteten Ukrainer stellt die Behörden vor andere Herausforderungen, als die bisher Geflüchteten. Laut der Studie "Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland"wohnen drei Viertel der Ukrainerinnen in privaten Wohnungen und Häusern. Asylsuchenden aus anderen Ländern ist das nicht erlaubt. Die Ukrainerinnen benötigen also nicht alle eine Unterkunft, was die Kommunen entlastet. Und sie dürfen sich ihren Wohnort aussuchen, wenn sie ihn privat organisieren.
Da Ukrainer sich vor allem in Städten angesiedelt haben, stellt das diese Orte vor Herausforderungen bei der Integration. Da etwa 350.000 Kinder und Jugendliche eingereist sind, werden deutlich mehr Kita- und Schulplätze gebraucht als bisher gewohnt. Die Kosten dafür tragen in der Regeln die Länder und Kommunen. Aus Syrien und Afghanistan beispielsweise fliehen deutlich mehr Männer als Frauen und Kinder, da der lange Weg nach Deutschland besondere Gefahren birgt. Ukrainerinnen erhalten direkt Sozialleistungen, die zu großen Teilen vom Bund gezahlt werden. Schutzsuchende anderer Nationalitäten erhalten Asylbewerberleistungen, die die Länder und Kommunen finanzieren.
Im März sind in Hamburg 817 Ukrainer neu angekommen und geblieben. In Schleswig-Holstein zogen 768 Menschen neu in die Landesunterkünfte. Und in den Nordosten kamen laut Innenministerium in Schwerin 557 ukrainische Vertriebene, von denen aber nicht klar ist, wie viele eine Unterkunft brauchten.
Wie voll sind die Unterkünfte?
Die Unterkünfte in Hamburg sind seit Monaten voll und werden stetig erweitert. Im März waren 43.730 von 44.479 Plätzen belegt. Darunter dutzende Hotels. "Eine Entspannung zeichnet sich nicht ab", schreibt die Sozialbehörde der Hansestadt auf Anfrage. Da auch immer Betten hergerichtet werden oder für Familien nicht vollständig genutzt werden können, ist eine Belegung von 80 Prozent der Plätze laut Experten eigentlich eine volle Belegung. "Aufgrund der Stadtstaatlichkeit Hamburgs sind die zur Verfügung stehenden öffentlichen Flächen jedoch sehr begrenzt und inzwischen auch endlich."
Kiel gibt aktuell an, 38 Prozente freie Plätze in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu haben. Von dort übergeben Flächenländer wie Schleswig-Holstein Asylantragsteller meist nach wenigen Wochen an die Kommunen. Im März wurden so 1.565 Menschen in die Zuständigkeit der Kommunen verteilt - doppelt so viel wie im Dezember 2022. Würde genauso weiterverteilt, wären in einem Monat so viele Menschen in die Kommunen in Schleswig-Holstein gekommen wie im ganzen Jahr 2021. Auch in Niedersachsen werden aktuell Container und Bürogebäude zur Unterbringung genutzt. Das Land arbeitet daran, langfristig kleinere Landesunterkünfte einzurichten, stößt dabei aber immer wieder auf Widerstand vor Ort.
Was kostet die Unterbringung und Versorgung überhaupt?
Wie viel Geld die Aufnahme von Geflüchteten insgesamt kostet, ist sehr schwer zu sagen und sehr unterschiedlich. Gehören beispielsweise auch Personalkosten in Ausländerbehörden dazu oder Erschließungskosten für Grundstücke von Unterkünften? Die Kommunen müssen die Unterkünfte stellen und finanzieren. Zudem geben sie viel Geld für Integrationshilfen aus, zum Beispiel die Betreuung durch Wohlfahrtsverbände. Die Länder und Kommunen zahlen auch die Versorgung von Asylbewerbers solange diese nicht anerkannt sind. Nach Anerkennung übernimmt der Bund die Sozialleistungen. In einem gemeinsamen Papier der Finanzministerkonferenz heißt es dazu: "Die Sozialleistungen nach dem SGB II und XII decken nicht die Gesamtkosten, hinzukommen umfängliche Kosten für Integration, Betreuung, Beschulung, etc."
Auf Anfrage des NDR teilte das Innenministerium in Niedersachsen mit, die Unterbringung und Versorgung in einer Erstaufnahmeeinrichtung koste etwa 3.000 Euro pro Person im Monat einschließlich aller Nebenkosten wie medizinischer Versorgung und sozialer Betreuung. Die Hamburger Innenbehörde schreibt, dass die monatlichen Kosten "der Unterbringung (..) in Abhängigkeit des jeweiligen Standortes der Erstaufnahmeeinrichtung zwischen circa 1.300 Euro und 2.200 Euro" liegen. In Schleswig-Holstein kostete jeder Mensch in der Erstaufnahmeeinrichtung laut Sozialministerium im Jahr 2021 knapp 2.000 Euro pro Monat. Das Innenministerium aus Mecklenburg-Vorpommern schlüsselt die Zahlen noch auf. Die Unterkunft von Asylbewerbern koste etwa 530 Euro; dazu kämen Sozialleistungen von rund 635 Euro. Bei Ukrainern lägen die Sozialkosten bei 1.020 Euro und die Unterkunft bei 220 Euro.
Wie viele Kosten die Länder den Kommunen erstatten ist ebenfalls sehr unterschiedlich. Kommt ein Geflüchteter in eine Kommune in Schleswig-Holstein, erhält diese eine Aufnahmepauschale von 500 Euro vom Land. Zudem weitere 11 Millionen Euro für die Aufnahme und Integration von Asylsuchenden. Mecklenburg-Vorpommern hingegen erstattet den Kommunen fast alle Kosten. Für Aufnahme und Integrationsleistungen hat das Land dieses Jahr eine Summe von 429 Millionen Euro vorgesehen (2022: 307 Mio.). Trotzdem entstehen den Kommunen im Nordosten zusätzlich auch Kosten, beispielsweise bei der Jugendhilfe oder der Schulbildung.
Wer will was?
Die Länder wünschen sich eine Finanzierung, die nicht jedes Jahr neu ausgehandelt werden muss und sich der Zahl der tatsächlich Ankommenden anpasst. Die Länder fordern nun zudem eine planbare Lösung für Integrationskosten sowie die Kosten für unbegleitete Flüchtlinge. "Es bedarf eines Finanzierungsmodells, das der Höhe nach angemessen ist und sich verändernden Flüchtlingszahlen anpasst (atmendes System)", heißt es in einem Papier der Bundesländer für den Gipfel. Sie fordern die Übernahme aller Kosten für Unterkunft und Heizung sowie eine allgemeine monatliche Pro-Kopf-Pauschale für die Versorgung. Bis 2021 zahlte der Bund pauschal 670 Euro pro Flüchtling im Monat. Heute halten die Länder laut des Papiers der Länderfinanzminister etwa 1.000 Euro für angemessen. Allerdings gibt es aktuell keine Pro-Kopf-Pauschale sondern eine festgelegte Gesamtsumme.
Der Bund hat für dieses Jahr 2,75 Milliarden Euro zugesagt - 1,5 Milliarden Euro davon sind eine Sonderzahlung für ukrainische Schutzsuchende. 1,25 Milliarden beträgt die jährliche pauschale Unterstützung für Asylbewerber. Darüber hinaus zahlt der Bund fast alle Sozialleistungen für Ukrainer und anerkannte Schutzsuchende sowie 2,7 Milliarden Euro für Integrationskurse und Arbeitsintegration. Bisher will die Bundesregierung es dabei belassen. Regierungssprecher Steffen Hebestreit betonte vor dem Gipfel, der Bund trage bereits einen erheblichen Teil der Kosten für die Aufnahme von Flüchtlingen. Allerdings hat sich Grünen-Chefin Ricarda Lang auf die Seite der Länder gestellt und mehr Geld vom Bund für die Unterbringung von Geflüchteten gefordert.
Die Kommunen stehen hinter den Forderungen der Länder und wünschen sich mehr Geld vom Bund. "Integrationspauschalen, so wie sie es bereits 2015/2016 vom Bund geleistet wurden, wären hier ein guter Lösungsansatz, weil diese sich auch an der Zahl der geflüchteten Menschen orientieren würde", sagt der Städte- und Gemeindetag Mecklenburg-Vorpommern. Bei den Unterkunftskosten klaffe ein jährliches Loch von mehr als zwei Milliarden Euro, sagte der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager. Allerdings geht es Städten und Gemeinden nicht nur um Geld. Sie wünschen sich auch eine andere Verteilung sowie Förderung im Wohnungsbau und beim Fachkräftemangel im Bildungssystem. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund fordert zudem unter anderem eigene Zentren des Bundes für die Aufnahme, größere Landesunterkünfte und Bürokratieabbau.
Was haben Abschiebepolitik und die EU damit zu tun?
Bundesinnenministerin Faeser will mehr Abschiebungen durchführen und Asylzentren an den EU-Außengrenzen etablieren. So erhofft sie sich, die Zahl der Schutzsuchenden in Deutschland zu verringern. Beide Ideen sind nicht neu und bisher immer daran gescheitert, dass einige EU-Länder und Herkunftsstaaten nicht kooperieren wollen. Deutschland hat in diesem Jahr laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bisher 29.126 Bitten an andere EU-Staaten geschickt, Menschen zurückzunehmen, die dort erstmals in die EU eingereist waren und ihren Asylantrag gestellt hatten. 1.552 Menschen wurden aber nur tatsächlich in ein anderes Land gebracht. Das sogenannte Dublin-System funktioniert nicht. So hat Schleswig-Holstein in 2022 insgesamt 162 Menschen in andere EU-Länder überstellt und 182 Ausländer abgeschoben. Niedersachsen hat im März 125 abgeschoben und 15 Menschen in andere EU-Länder gebracht.
Insgesamt lehnt das BAMF jeden fünften Asylantrag als unbegründet ab. Faeser will die Verwaltung und Betreuung dieser Menschen verhindern indem Asylzentren an EU-Außengrenzen deren Anträge bearbeiten. Dieser Plan ist umstritten. Kai Weber, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Niedersachsen, sagte zu NDR Info, diese Idee sei ein "Sündenfall" und Angriff auf den Kern des Asylrechts. "Wir wissen alle, welche verheerende Praxis wir an den europäischen Grenzen erleben: mit Lagerunterbringung unter unsäglichen Bedingungen, systematischen Push-Backs und Menschenrechtsverletzungen."