"Die Frage ist ja: Wie passen die Menschen zu den Kommunen?"

Stand: 10.05.2023 07:44 Uhr

Im Vorfeld des Flüchtlingsgipfels von Bund und Ländern hat NDR.de mit Politikwissenschaftler Hannes Schammann gesprochen. Er forscht an der Universität Hildesheim vor allem zu Flüchtlingsarbeit von Kommunen, migrationspolitischen Debatten und dem Verteilsystem für Geflüchtete.

Hannes Schammann, Professor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim, im Portrait © Universität Hildesheim Foto: Daniel Kunzfeld
Fluchtzuwanderung macht Probleme stärker sichtbar, die ohnehin da sind, sagt Professor Schammann.

Bund und Länder streiten vor allem um Geld. Was ist Ihrer Meinung nach aktuell die größte Herausforderung für die Flucht- und Asylpolitik in Deutschland?

Hannes Schammann: Erstmal muss man klarstellen, dass die Lage der Kommunen sehr unterschiedlich ist. Dass man jetzt sagt, alle brauchen mehr Geld, täuscht über diese Vielfalt hinweg. Es gibt Kommunen, die weiter keine Notlösungen fahren müssen. Und das sind keineswegs nur Kommunen in ländlichen Gegenden, sondern auch Städte wie Düsseldorf.

Welche Probleme drängen besonders?

Schammann: Es gibt mehrere strukturelle Probleme. Eins ist zum Beispiel, dass die Ausländerbehörden überlastet sind. Sie sind ohnehin schon lange an der Grenze, weil sie ein chronisches Personalproblem haben. Ausländerbehörden sind unbeliebte Arbeitgeber, da man es mit schwierigen Fällen zu tun hat, es oft emotional zugeht und viele Ermessensentscheidungen getroffen werden. Zudem ist das Ausländerrecht komplex. Das kann belastend sein. Um hier Abhilfe zu schaffen, müsste man zum einen das Ausländerrecht entrümpeln. Denn Geduldete müssen zum Beispiel immer wieder vorsprechen, obwohl alle wissen, dass die Duldung verlängert wird. Und man könnte digitalisieren, sodass man nicht immer persönlich in der Behörde erscheinen muss. Stattdessen wird aber diskutiert, den Ausländerbehörden noch mehr Aufgaben zu geben - zum Beispiel bei Abschiebungen oder dem sogenannten Spurwechsel, bei dem Geduldete eine Aufenthaltserlaubnis zum Arbeiten bekommen.

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Es fehlt Personal in Ausländerbehörden, aber auch Wohnungen, Sprachlehrer, Erzieherinnen: Gibt es da Lösungsansätze?

Schammann: Fluchtzuwanderung macht Probleme stärker sichtbar, die ohnehin da sind. Beim Wohnungsmarkt und im Bildungssystem trifft Fluchtzuwanderung auf ein angespanntes bis labiles System. Da muss man auch mal kreative Lösungen überlegen. Wir werden nicht weiterkommen, wenn wir weiter "es geht nicht" oder "können wir nicht machen" sagen. Ich hatte, wie vom ukrainischen Kultusministerium vor einem Jahr gewünscht, gesagt, wir können diskutieren, ob ukrainische Kinder erstmal von hierher geflüchteten Lehrkräften weiter nach ukrainischem Lehrplan unterrichtet werden. Auch wenn es aus Perspektive der Integration besser wäre, wenn sie ins deutsche System gehen. Aber wir müssen in Phasen, wo es zu Flaschenhalssituationen kommt, kreativ sein.

In Sachen Unterbringung gibt es Leuchtturmprojekte. Zum Beispiel ein Haus in Augsburg, das Hotel und Unterkunft gleichzeitig ist. Großstädte haben da Potenzial. Aber das ist für die breite Masse eher nicht tauglich und es gibt momentan sehr wenig breite Lösungen. Wichtig wäre, dass Landkreise immer die Augen nach Liegenschaften offenhalten, die ungenutzt sind und sich die Option sichern, diese im Leerstand anzumieten. Es geht einfach darum, dass man permanent am Ball bleibt und Unterbringung vorzuhalten als Daueraufgabe begreift. Denn die diskutierten Lösungen, also Außengrenzen dicht zu machen, wird uns nicht davor bewahren, dass Fluchtzuwanderung weiter kommen wird.

Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser, der Städte- und Gemeindebund, die Polizeigewerkschaft und auch einige Ministerpräsidenten wollen damit erreichen, dass weniger Schutzsuchende nach Deutschland kommen. Wie realistisch ist das?

Schammann: Es ist durchaus möglich, Migrationszahlen zu beeinflussen - in einem gewissen Korridor. Die Frage ist aber, mit welchem Mittel man wieviel Erfolg hat? Denn wenn man Außengrenzen dichtmacht, werden trotzdem Leute in den Asylzentren dort anerkannt. Was passiert dann mit ihnen? Sie müssen verteilt werden und dafür braucht man einen Modus, wie die Verteilung ablaufen kann. Wenn dann einige EU-Länder aufnehmen und andere nicht, bedeutet es, dass in den aufnahmebereiten Ländern mehr Menschen ankommen werden. Also wie viel das wirklich reduziert, ist nicht klar. Und es bringt Folgefragen mit sich: Was ist mit denen, die trotzdem in Hamburg an die Tür klopfen und sagen: "Hier bin ich". Werden die dann an die Außengrenzen deportiert?

Die EU ist in Sachen Asylpolitik seit Jahren gespalten in aufnahmebereite Länder und solche, die durchwinken und sich wenig kümmern wollen. Nun will Bundesinnenministerin Faeser Asylzentren direkt an den EU-Außengrenzen etablieren und mehr Abschiebungen durchführen. Ist das ein Feigenblatt?

Schammann: Es ist leider der immer wiederkehrende Versuch, rhetorisch die Kluft zwischen öffentlicher Meinung und tatsächlichen Maßnahmen zu überbrücken. Das hat auch der ehemalige Bundesinnenminister Seehofer mit der Obergrenze gemacht und gehofft, dass niemand so genau nachfragt. Aber das ist gefährlich, denn wenn man viel verspricht und die Wirkung ausbleibt, führt es zu Frust bei allen Beteiligten.

Bei Abschiebungen sprechen wir von zwei bis drei Prozent, die wirklich abgeschopben werden könnten. Da ist die Frage, ob die Kommunen das überhaupt merken würden, wenn die Menschen weg sind. Unabhängig davon, ob man für Abschiebungen ist oder nicht, scheint es mir bei knappen Ressourcen pragmatischer, stattdessen die Ressourcen in die Arbeitsmarktintegration zu investieren.

Aber grundsätzlich wird die Diskussion um Begrenzung von Zuwanderung, denke ich, zunehmen. Denn die Klimamigration beginnt gerade erst. Und die Menschen gelten ja aktuell als Wirtschaftsflüchtlinge, denn ihr Fluchtgrund ist nicht der Klimawandel an sich, sondern die Tatsache, dass die Lebensgrundlagen wegbrechen und eine ökonomische Krise folgt. Um den Druck von den irregulären Migrationsrouten zu nehmen, müsste man mehr legale Migrationswege schaffen.

An den EU-Außengrenzen sind zahlreiche Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. Sogenannte Push-Backs, fehlende Seenotrettung und Gewalt gegenüber Flüchtenden: Würde Deutschland sich so mit diesen Problemen gemein machen?

Schammann: Das Bequeme an der Dublin-Verordnung ist, dass man alles auslagern und dann mit dem Finger drauf zeigen kann. Die Verordnung hat so nie wirklich funktioniert. Die menschenrechtlichen Fragen bei Asylzentren hat man gar nicht so durchdrungen, würde ich sagen. Man denkt eher an die Verteilung und will die Belastung für Deutschland ändern.

Städte sagen: Wir sind voll und können keine Integration mehr leisten. Ländliche Regionen sagen: Hier sind Integrationsangebote zu weit weg, Busse fehlen, Ausländer möchten hier weg. Was zeigt ihre Forschung: Wo und wie funktioniert Ankommen am besten?

Schammann: Es kommt drauf an. Die Strukturen sind nicht überall auf dem Land und in der Stadt gleich. Wir haben intensiv geforscht in den letzten Jahren - mit Geflüchteten, der Zivilgesellschaft und Verwaltungen gesprochen. Die Bleibewahrscheinlichkeit in ländlichen Regionen ist für Familien höher, weil die Eltern das Gefühl haben, dass die Kinder dort besser untergebracht und eingebunden sind. Alleinreisende wollen erstmal in Communitys in die Städte.

Die Frage ist ja, wie passen die Menschen zu den Kommunen? Denn bisher ist jede Person eine Zahl und wird dorthin verteilt, wo es freie Betten gibt. Es wird nicht auf Passung geachtet. Deswegen kommt es zu "Mismatches", die Leute ziehen weg und es entsteht viel Frust auf allen Seiten.

Der Königsteiner Schlüssel

Welches Bundesland wie viele Asylbewerber aufnehmen muss, wird in Deutschland nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel festgelegt. Die Verteilung auf die Bundesländer, erklärt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf seiner Internetseite, richtet sich dabei nach den Steuereinnahmen und der Bevölkerungszahl der Länder. Diese Quote wird jährlich neu ermittelt. Nordrhein-Westfalen hat in diesem Jahr mit 21,2 Prozent die höchste und Bremen mit 0,9 Prozent die niedrigste Quote. Niedersachsen muss 2015 demnach 9,4 Prozent der Flüchtlinge aufnehmen.  
In welche Erstaufnahmeeinrichtung die Asylsuchenden aufgenommen werden, richtet sich nach den jeweils aktuellen Kapazitäten der einzelnen Unterkünfte. Dabei spielt auch eine Rolle, in welcher Außenstelle des BAMF das Heimatland des Asylbewerbers bearbeitet wird. Denn nicht jede Außenstelle bearbeitet jedes Herkunftsland.

Die Verteilung klappt aktuell nicht gut. Sie erforschen gemeinsam mit Informatikern der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg einen Algorithmus, der dazu führen soll, dass Geflüchtete besser auf Kommunen verteilt werden. Das sogenannte Matching soll dazu führen, dass die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Menschen besser zu den aufnehmenden Kommunen passen und so Integration erleichtert und ein Fortzug verhindert wird. Wie genau soll das funktionieren?

Schammann: Die Idee ist, dass die mitsprechen, die es am meisten betrifft: Städte, Gemeinden und Geflüchtete. Wir lassen alle einen Fragebogen mit etwa 60 Fragen ausfüllen. Daraus ergibt sich eine ideale Kommune für den Geflüchteten - die so natürlich nicht existiert. Aber der Algorithmus findet die realen Kommunen, die besonders nah an dieses Ideal herankommen. Die zuweisende Behörde kann die Person dann nach diesem Vorschlag verteilen und Informationen über die Kommune mitgeben sowie der Gemeinde sagen, wer eigentlich zu ihnen kommt. Wir hoffen, dass das die Akzeptanz der Verteilung bei den Geflüchteten steigert, weil sie sehen, dass sie dort am besten hinpassen. Denn im Moment gibt es so Abwehrreflexe wie: Da will ich nicht hin, ich wollte doch nach Hannover.

Welche Kriterien beziehen Sie in ihren Algorithmus ein?

Schammann: Besondere Schutzbedarfe wie Behinderungen. Aber auch Details der Arbeits- und Bildungsbiografie: Will jemand noch studieren oder hat familiäre Verbindungen irgendwohin? Es geht bis zu Freizeitaktivitäten. Diese banalen Sachen werden aktuell auch mal zufällig abgefragt und weitergegeben, finden aber keinen systematischen Eingang in die Zuweisungen. Bei den Kommunen richten sich die Fragen danach, was vor Ort wirklich vorhanden ist: Welche Infrastruktur gibt es für die Integration, welche Gesundheitsangebote und welche Wohnungen. Die Kommunen möchten natürlich vor allem Fachkräfte bekommen.

Auch mehrere Regionen in Niedersachsen sind in der Testphase dabei. Zum Beispiel die Landkreise Göttingen und Aurich sowie die Stadt Lüneburg. Wie läuft die Testphase?

Schammann: Niedersachsen steigt voraussichtlich im Lauf des Sommers in die Verteilung ein. Der Algorithmus ist fertig. Aktuell schulen wir die Personen für die Beratungen und dann werden wir mit der Verteilung beginnen. Wir verfolgen dann die Matching- und eine Kontrollgruppe. Wenn wir Pech haben, merken wir, dass das Matching nichts verbessert. Mit Glück sehen wir in ein paar Jahren, dass die Menschen schneller teilhaben an der Gesellschaft - und Integrationsmaßnahmen effizienter eingesetzt werden konnten. Perspektivisch könnte das aktuell eher aufwendige Verfahren vereinfacht werden, indem die Geflüchteten ihr Profil selbst per Smartphone-App anlegen. Das könnten sie direkt in der Erstaufnahme ausfüllen, da haben sie ohnehin wenig zu tun.

Was erwarten sie vom Flüchtlingsgipfel?

Schammann: Es wird das Versprechen zur Stärkung der Außengrenzen geben - in der Hoffnung, dass weniger Menschen kommen. Ich hoffe aber, dass man klar macht, dass alle an einem Strang ziehen. Es sollte keinen Verschiebebahnhof der Verantwortung geben, sondern ein Bekenntnis, die Herausforderung gemeinsam zu lösen. Und ich befürchte, dass strukturelle Fragen, wenn überhaupt, leider nur am Rande angesprochen werden.

Das Interview führte Carolin Fromm.

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NDR Info | 10.05.2023 | 08:05 Uhr

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