Deutsche Waffenbehörden schlecht gegen Amokläufe gerüstet

Stand: 14.09.2023 13:47 Uhr

Sechs Monate nach dem Amoklauf bei den Zeugen Jehovas in Hamburg ist die Frage nach der Verantwortung der Behörden noch immer nicht abschließend geklärt. Eine Umfrage des NDR zeigt, dass viele andere Waffenbehörden in Deutschland für solche Fälle ähnlich schlecht gerüstet sind.

von Marie Blöcher und Caroline Schmidt

Ein halbes Jahr ist der Amoklauf bei den Zeugen Jehovas in Hamburg jetzt her: Am 9. März 2023 tötete Philipp F. während des Gottesdienstes in Alsterdorf sieben Menschen, unter ihnen ein ungeborenes Kind. Philipp F., der sich im Anschluss das Leben nahm, war selbst ehemaliges Mitglied der Hamburger Gemeinde. Für die Zeugen Jehovas ist es nur schwer zu ertragen, wie der Pressesprecher Michael Tsifidaris beschreibt: "Manche hatten den Täter im Vorfeld der Tat ja offensichtlich in der Nähe des Gemeindezentrums gesehen, sich sogar gefreut, dass er wieder einen Gottesdienst besucht, und werden dann plötzlich mit so einer unfassbaren Tat konfrontiert. Ich glaube, das ist schwer zu verarbeiten."

Amoklauf hätte offenbar verhindert werden können

Noch immer sind viele Fragen unbeantwortet. Was aber immer deutlicher wird: Der Amoklauf hätte offenbar verhindert werden können. Das erklärte bereits im Juni die Hamburger Staatsanwaltschaft. Auch Experten und Expertinnen aus den Bereichen Psychologie und Polizeirecht kommen zu dem Schluss, dass die zuständige Waffenbehörde die Tat mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte abwenden können. Waffenbehörden registrieren nicht nur, wie viele legale Waffen in einer Stadt oder Gemeinde im Umlauf sind. Sie sollen auch verhindern, dass unberechenbare oder gefährliche Menschen Schusswaffen besitzen.

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Schreiben und Buch des Schützen als Warnsignale

Die Hamburger Waffenbehörde wurde durch ein anonymes Schreiben vor dem labilen Zustand von Philipp F. gewarnt. Sein Bruder hat darin detailliert dargelegt, dass von Philipp F. Gefahr ausgeht. Die Behörde nahm das Schreiben so ernst, dass sie Philipp F. einen unangekündigten Besuch abstattete. Karoline Roshdi, Kriminalpsychologin spezialisiert auf Gefahrenanalyse, wertet das Schreiben rückblickend als Warnsignal. Darin findet sich auch der Hinweis auf ein Buch von Philipp F., in dem Gewaltfantasien und bedrohliche Thesen zu finden sind - für Roshdi ein weiteres Warnsignal.

Viele Waffenbehörden nicht in der Lage, Amokläufe zu verhindern

Diese Signale hätten auch rechtzeitig in die Arbeit der Waffenbehörde einfließen und zur Einschaltung von Experten führen müssen, meint Markus Thiel, Professor für Polizeirecht an der Polizeihochschule Münster. Doch darauf ist die Arbeitsweise der meisten Waffenbehörden eben nicht ausgelegt. Nach der Auswertung einer Umfrage von NDR Info und Panorama 3 zum Umgang der Waffenbehörden mit (anonymen) Hinweisen auf potenziell gefährliche Waffenbesitzer kommt Thiel zu dem Schluss, dass viele mit ihrer derzeitigen Arbeitsweise offenbar nicht in der Lage seien, Amokläufe zu verhindern. "An den Antworten sieht man deutlich, dass die bisherigen Verfahrensregelungen einfach zu schwerfällig sind", sagte Thiel.

Umfrage-Ergebnis: Wenige Waffenbehörden haben Abläufe verändert

Anmerkung zur Umfrage

Angefragt wurden die Innenministerien aller Bundesländer außer Hamburg. In Niedersachsen und Schleswig-Holstein wurden in Abstimmung mit der Innenbehörde stichprobenartig Kreise und kreisfreie Städte angefragt. Von insgesamt 31 angefragten Stellen haben 30 geantwortet.

Auch ein halbes Jahr nach der Tat haben von zwölf Innenministerien, die im Rahmen der Umfrage geantwortet haben, nur drei geantwortet, dass die Waffenbehörden in ihrem Bundesland ihre Arbeitsweise verändert oder zumindest für den Umgang mit anonymen Hinweisen sensibilisiert haben. Im Norden haben darüber hinaus Waffenbehörden aus neun Städten und neun Kreisen an der Umfrage teilgenommen. Auch hier gaben nur vier an, Abläufe verändert oder Mitarbeitende sensibilisiert zu haben.

 

 

Expertise von Experten nicht berücksichtigt

Wäre man im Hamburger Fall den Hinweisen auf den Zustand von Philipp F. gewissenhaft nachgegangen und hätte die Waffenbehörde zum Beispiel frühzeitig auf die Expertise von Polizei und Psychologen und Psychologinnen zurückgegriffen, hätte Philipp F. wohl rechtzeitig entwaffnet werden können - so die Auswertung der Experten. Ein Vorwurf auf den die Hamburger Innenbehörde mit Verweis auf das Waffenrecht reagiert. Weitere vertiefende Risikoanalysen unter Beteiligung externer Psychologen sehe das Waffengesetz nicht vor, so die Hamburger Innenbehörde auf unsere schriftliche Anfrage. "Entsprechend gab es auch keinen fachlichen Standard oder keine fachliche Praxis der Waffenbehörde, die ein solches Vorgehen vorgesehen hätten."

 

 

Polizeirechtsprofessor: "Auf Amokläufe sind Waffenbehörden nicht vorbereitet"

Die Umfrage zeigt: Auch heute gehört die Zusammenarbeit mit solchen Experten und Expertinnen meist nicht zum standardisierten Vorgehen zuständiger Behörden in Deutschland. So erfolgt die frühzeitige Einbindung vom sozialpsychiatrischen Dienst und die frühzeitige Einbindung geübter Fachleute, etwa vom Landeskriminalamt (LKA), jeweils nur in vier der abgefragten Behörden. Bei einem Großteil der Behörden werden diese Möglichkeiten nur im Einzelfall ausgeschöpft. "Auf Amokläufe sind Waffenbehörden im Grunde nicht vorbereitet", urteilte Polizeirechtsprofessor Thiel. "Und da müssen wir uns einfach darauf verlassen können, dass die bei entsprechenden Anhaltspunkten diejenigen einschalten, die das können."

 

 

Hamburgs Innensenator kündigt Reform an

In Hamburg ist all das nicht passiert. Dass die Arbeitsweise der dortigen Waffenbehörde nicht ausreicht, sieht mittlerweile auch der zuständige Innensenator Andy Grote (SPD) so. Im Juni kündigte er eine große Reform der Behörde an. Ein zentrales Element: Die Behörde muss künftig frühzeitig die Polizei und Psychologen und Psychologinnen zur Gefahreneinschätzung hinzuziehen. Im gleichen Atemzug erklärt Grote allerdings, im Fall von Philipp F. hätte das wenig gebracht. Unsere schriftliche Nachfrage, warum, beantwortet er nicht.    

Bund Deutscher Kriminalbeamter fordert tiefgreifendere Veränderungen

Der Bund Deutscher Kriminalbeamter hat mit Blick auf die Ankündigungen des Hamburger Senats tiefgreifende Veränderungen gefordert. Der Landesvorsitzende Jan Reinecke spricht sich in diesem Zusammenhang für taugliche Handlungskonzepte für Mitarbeitende der Polizei aus. Damit Taten, wie der Amoklauf in Hamburg verhindert werden könnten, sollte künftig jeder Hinweis ausreichen, um Waffen "unverzüglich und bis zum Abschluss der durch das Maßnahmenpaket angekündigten Risikobewertung des Landeskriminalamtes Hamburg in amtlichen Gewahrsam zu nehmen". Eine Forderung, die deutlich weiter geht als die vorgeschlagenen Maßnahmen des Senats.

Innensenator äußert sich nach Veröffentlichung

Nachtrag: Nach unserer Veröffentlichung antwortet Hamburgs Innensenator Grote noch auf die Frage, ob die Reform der Waffenbehörde den Amoklauf von Philipp F. verhindert hätte. "Im konkreten Fall von Philipp F. hätte der zu erwartende Zeitablauf nach Eingang des Schreibens mit externer Risikobewertung und anschließender persönlicher psychologischer Begutachtung, die erfahrungsgemäß einen mehrmonatigen Terminvorlauf hat, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr zu einer rechtzeitigen Entziehung der Waffe geführt", so die Antwort des Innensenators.

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NDR Info | Panorama 3 | 12.09.2023 | 21:15 Uhr

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