"Tár"-Komponistin Gudnadóttir über ihre dunkle Seite in ihrer Musik
Hildur Guðnadóttir hat Grammys, Emmys und einen Oscar für die Filmmusik von der "Joker" bekommen. Die Dramen "Tár" und "Die Aussprache" mit ihrer Musik sind oscarnominiert als bester Film. Ein Gespräch über die Musik für "Tár" und Dirigentinnen.
Vor wenigen Tagen hat Todd Fields oscarnominiertes Drama "Tár" Deutschlandpremiere im Rahmen der Berlinale gefeiert. Cate Blanchett und Nina Hoss spielen im Drama ein Musikerinnen-Ehepaar als fiktive Star-Dirigentin und Konzertmeisterin eines großen Berliner Orchesters. Die Schöpferin des Soundtracks ist die 40-jährige Isländerin Hildur Guðnadóttir. Bei der Filmfestival-Sektion Berlinale-Talents sprach sie mit NDR Kultur über die Musik zu "Tár", ihren Wunsch, in der Elbphilharmonie Hamburgs aufzutreten und ihre Vorliebe für dramatische Töne beim Komponieren.
In den Dialogen von "Tár" geht es ständig um Musik, Aufnahmen, Orchester und Komponistinnen. Unter anderem wird Ihre Kollegin und Landsfrau Anna Thorvaldsdóttir genannt, deren Musik auch im Film zu hören ist und im Soundtrack von "Tár" aufgeführt wird. Wie kam diese Verbindung zustande?
Hildur Guðnadóttir: Wir haben für diesen Film nicht zusammengearbeitet, aber ihre Musik ist im Film zu hören. Sie ist eine alte Freundin. Wir haben als Teenagerinnen zusammen Cello studiert und danach in Island gleichzeitig Komposition studiert. Mein Vater hat tatsächlich die Uraufführung und die Aufnahme des Stückes dirigiert, das man im Film "Tár" hört. Es gibt also dennoch eine Verbindung zum Film.
Sie sind von Hause aus Cellistin. Wann haben Sie das erste Mal ein Cello in der Hand gehalten?
Guðnadóttir: Ich habe schon im Mutterleib immer ein bestimmtes Konzert gehört, das meine Mutter in ihrer Schwangerschaft in Dauerschleife gespielt hat, ein Cello-Konzert mit Jacqueline du Pré. Sie hat mir erzählt, dass sie schon damals wusste, ich würde Hildur heißen und Cellistin werden. Das stand wohl in den Sternen geschrieben (lacht).
2020 haben Sie als erst vierte Komponistin einen Oscar für die Musik fürs Drama "Joker" erhalten. Was hat sich seitdem geändert - spüren Sie, dass sich etwas in der Dirigentinnen- und Komponistinnenszene tut?
Guðnadóttir: Ich hoffe es. Ich habe von vielen Mädchen gehört, dass dieses Beispiel ihnen den Mut gegeben hat, Komposition zu studieren. Auch von Musikhochschulen und Universitäten habe ich gehört, dass seither die Anzahl der Studienanträge von Frauen zugenommen hat. Es ist absolut wunderbar, Teil dieses Dialoges, dieses Prozesses zu sein. Dass ich manche Ohren, manche Augen, manche Türen geöffnet habe, damit Frauen Musik komponieren und Aufträge erhalten. Ich hoffe, dass es sich mittlerweile herumspricht, dass Frauen genauso in der Lage sind, Musik zu komponieren (lacht).
Vor wenigen Wochen gab es ein umjubeltes Konzert mit Dirigent Alan Gilbert in der Elbphilharmonie in Anwesenheit der eben genannten Isländerin Anna Thorvaldsdóttir mit ihrer Komposition "Catamorphosis". Das Publikum war hin und weg. Sind Sie schon in der Elbphilharmonie mit ihrer besonderen Akustik aufgetreten?
Guðnadóttir: Nein, leider noch nicht. Aber wir arbeiten daran!
In "Tár" dreht sich alles um Musik, etwa um eine Live-Aufnahme von Mahlers 5. Sinfonie mit einem großen Berliner Orchester. Wie sind Sie an Ihre Filmmusik herangegangen, um sich von Mahler abzusetzen?
Guðnadóttir: Die von Cate Blanchett gespielte Musikerin Lydia Tár ist im Prinzip ein fiktiver Charakter innerhalb eines fiktiven Charakter. Sie steht für eine brillante Frau, die alles unter Kontrolle hat und Macht ausübt. In der Wirklichkeit ist sie als Persönlichkeit viel fragiler, eine Musikerin und Komponistin auf der Suche. Meine Musik zeigt, wie groß die Lücke zwischen dieser öffentlichen und der privaten Person klafft. Die private Musikerin sucht nach Klängen, nach Emotionen auf Expeditionen im Amazonas, in der Natur. Daher ist die Musik, die sie im Film darstellen soll, eine, die sich deutlich von Mahler abhebt.
Auf der anderen Seite ist dieses ein Film über Musikproben. Über das Feilen am Auftritt. Das Gefühl, total von der Musik erfüllt, übermannt zu werden. Jeder Musiker kennt dieses Gefühl, mittendrin in den Proben im Orchester zu sitzen oder beim Komponieren überwältigt zu sein. Es lässt dich nicht los. Es begleitet dich im Schlaf, beim Wäschewaschen. Ich habe Musik dafür geschrieben und zu zeigen, wie die innere Uhr aller Personen tickt. Und Filmmusik für eine Art Oberfläche.
Im Film dauert es aber fast eine Stunde, bis man Ihre Musik überhaupt wahrnimmt! Sie klingt zunächst wie ein leises, unterirdisches Brummen!
Guðnadóttir: (lacht) Es gibt fast 40 Minuten meiner Filmmusik, aber die meisten werden wahrscheinlich gar nicht merken, dass sie da ist, weil sie sehr leise ist. In so einer Art Film, wo es so viele Schichten Musik gibt, sind diese zarten Schichten subtil verwoben: Keiner der Klänge soll das Publikum fühlen lassen "so oder so musst du jetzt fühlen". Die Musik fragt eher. Zum Beispiel: "Diese Person macht gerade etwas Unangenehmes, wie geht es dir damit?" Dem Publikum wird nie vorgeschrieben, wie es sich fühlen soll.
Dann gibt es auch viele Geräusche, die Lydia Tár hört, die sich auf den Soundtrack ausgewirkt haben und Raum einnehmen. Umso weniger Zeit blieb für die eigentliche Musik. Sie spielt eher aufs Unbewusste ab, als auf das in den Bildern gezeigte. Sie lässt, wie der Film offen: Gibt es Geister im Film? Spielt sich einiges nur im Kopf der Dirigentin ab? Meine Musik soll eher Unbehagen bereiten, ohne dass man es bewusst merkt. Aber Sie sollen jetzt nicht glauben, dass man die Musik auch weglassen könnte und man würde es nicht merken. Es wäre ein ganz anderer Film, glauben Sie mir! (lacht).
Sie lachen gern bei diesem Interview, haben bei der Oscarpreisvergabe gestrahlt. Das steht im starken Kontrast zur Ihrer Filmmusik! Sie haben für düstere Themen wie eine Atomkatastrophe, den düsteren Joker, Gewalt an Frauen in einer engen Gemeinschaft bei "Die Aussprache" komponiert. Woher kommt diese Diskrepanz?
Guðnadóttir: (lacht) Mich interessiert an Geschichten und im Allgemeinen an Menschen am meisten ihre Komplexität. Lydia Tár und der Joker sind beide an und für sich nicht böse oder gut. Sie sind alles dazwischen. Es sind unangenehme Persönlichkeiten, die wir vielleicht nicht so gerne sehen. Aber in der Wirklichkeit haben wir auch viele dieser Charakterzüge. Wir haben eine gute und eine schlechte Seite. Es interessiert mich, das musikalisch zu ergründen - wie Menschen in der Gesellschaft böse werden oder unerwünscht.
Wie sehr hat Sie die isländische Tradition des Rimur beeinflusst?
Guðnadóttir: Nicht bewusst. Aber die Herkunft wird immer beeinflussen, wie du und wer du bist. Die Rimur-Tradition kommt daher, dass es früher in Island verboten war, Musik zu spielen. Es fing also als Poesie an, die sich zur Musik entwickeln konnte. Während ihr in Deutschland Komponisten wie Johann Sebastian Bach hattet, hatten wir gar nichts. Es gab vielleicht ein einziges Harmonium auf der Insel. Der Besitzer ist dann gestorben und es wurde außer Landes gebracht, weil niemand es spielen konnte, so um 1850 herum.
Musikalische Tradition in Island ist also sehr jung. Wir haben also eine gewisse Frische beim Komponieren, das ist alles noch recht neu für uns. Wir stehen alle nicht in Konkurrenz zueinander. Es gibt wenige Profimusikerinnen und -musiker und wenig technisches Equipment, wir haben uns zum Beispiel gegenseitig Verstärker ausgeliehen und wir füreinander geschrieben. Ich habe mit Anna studiert, Björk wohnt in derselben Straße, wie mein Vater. Wir sind eine eingeschworene Gemeinschaft, die sich familiär unterstützt.
Sie komponieren dennoch auffällig in kleinen Intervallen, die Düsternis erahnen lassen …
Guðnadóttir: Genauso, wie Menschen gute und böse Seiten haben, besteht der Großteil meines Alltags aus Lachen und Freude. Meine dunkle Seite bricht ganz sicher in meiner Musik hervor. Das äußert sich in kleinen Intervallen.
Man sagt, Film verändere nicht die Welt. Dennoch ist es ein schöner Zufall, das vor wenigen Tagen in 140 Jahren Geschichte der Berliner Philharmonie zum ersten Mal eine Frau Konzertmeisterin geworden ist, die Violinistin Vineta Sareika-Völkner. Was sagen Sie dazu?
Guðnadóttir: Ich habe gerade davon erfahren. Ich bin begeistert! Das sind fantastische Neuigkeiten, das wurde aber Zeit!
Meinen Sie, dieser Film wird etwas in der Klassischen Musikszene ändern?
Guðnadóttir: Das würde ich zumindest hoffen. Ich weiß, dass viele Dirigentinnen nicht besonders glücklich über diesen Film sind. Ich verstehe die Gründe dafür, respektiere das und kann nachempfinden, warum dieses Dirigentinnen-Porträt für sie unangenehm ist. Gleichzeitig lesen wir Artikel für Artikel und so viel Diskussion über die Bedeutung und aktuelle Situation von Dirigentinnen in der realen Welt.
Ich habe noch nie so viele Artikel auf einmal in den Medien über Dirigentinnen gelesen wie jetzt. Dass wir mit dem Film einen Fokus darauf richten wird hoffentlich zumindest dazu führen, dass sich dadurch für Musikerinnen etwas ändert. In meinem Beruf als Komponistin ist es leider so, dass der Anteil an Frauen unglaublich gering ist. Je mehr Komponistinnen und Dirigentinnen wir sind, desto mehr können wir an der Lage etwas ändern. Als ich anfing, für Film zu komponieren, gab es kaum Frauen in der Branche. Das hat mich erst recht dazu gebracht, das tun zu wollen, etwas zu verändern. Ich hoffe, dass dieser Film, und sei es in noch so geringem Maß, etwas zur aktuellen Diskussion beiträgt.
Im Film geht es auch um Leonard Bernstein und dessen Aufnahme von Mahlers 5. Sinfonie für die Deutsche Grammophon. Was verbinden Sie mit dem Dirigenten? Dieses Jahr kommt eine Filmbiografie von Bernstein ins Kino, inszeniert von Bradley Cooper.
Guðnadóttir: Das ist ein schöner Zufall, denn ich kenne Bradley Cooper noch vom Filmdreh zu "Joker" und es ist schön, dass wir wieder im selben Jahr Filme ins Kino bringen. Ich habe Fotos vom Set gesehen. Der sieht gut aus. Aber natürlich bin ich großer Fan von Leonard Bernstein, es gibt bei ihm viel über Musik und über das Leben zu lernen. Das ist also eine gute Idee, sein Leben im Kino zu erzählen. 2023 ist ein gutes Jahr für Komponistinnen und Komponisten!
Das Gespräch führte und übersetzte aus dem Englischen Patricia Batlle für NDR Kultur.