Die Hitler-Tagebücher: Chronik eines absehbaren Skandals
Von der Vorgeschichte bis zum großen Eklat: Über Jahre hinweg glaubten Reporter, Verlagsleitung und Chefredaktion bei den vermeintlichen Hitler-Tagebüchern an einen Sensationsfund - und gaben dafür Millionen aus.
1973: "Stern"-Reporter Gerd Heidemann kauft die ehemalige Yacht von Hitler-Intimus und Reichsmarschall Hermann Göring. Er will die "Carin II" restaurieren und gewinnbringend weiterverkaufen. Doch die Suche nach einem Käufer schlägt in den folgenden Jahren fehl, Heidemann verschuldet sich zunehmend.
1974: Konrad Kujau, Militaria-Händler und Maler aus Stuttgart, trifft auf einen schwäbischen Unternehmer, der leidenschaftlich NS-Devotionalien sammelt. Schon bald versorgt er ihn mit gefälschten Dokumenten und Gegenständen.
November 1975: Kujau bietet dem schwäbischen Sammler ein erstes "Hitler-Tagebuch" an, dieser ist begeistert.
Januar 1980: Heidemann wird von einem Bekannten mit dem schwäbischen Unternehmer in Kontakt gebracht. Der will zwar die "Carin II" nicht kaufen, zeigt aber Interesse an Göring-Stücken, die Reporter Heidemann in der Zwischenzeit gesammelt hat. Außerdem erzählt er Heidemann von einer Sensation: dem "Hitler-Tagebuch". Er stellt den Kontakt zu Konrad Kujau alias Konrad Fischer her.
April 1980: Heidemann berichtet Thomas Walde, zu diesem Zeitpunkt Ressortleiter Zeitgeschichte des "Stern", von den vermeintlichen Tagebüchern. Walde erteilt ihm den Auftrag, den Händler "Fischer" und die Tagebücher ausfindig zu machen.
September 1980: Heidemann ist inzwischen der angeblichen "Fundgeschichte" der Tagebücher auf der Spur: Bei einem Flugzeugabsturz im sächsischen Börnersdorf sollen die Tagebücher 1945 verschollen sein.
November 1980: Gemeinsam mit Ressortleiter Walde macht Heidemann sich auf den Weg in die DDR, die beiden finden auf dem Friedhof der sächsischen Gemeinde die Gräber der verunglückten Flugzeuginsassen - sie werten dies als Beleg für die Wahrheit der Fundgeschichte und später auch als Beleg für die Echtheit der Tagebücher.
27. Januar 1981: Heidemann und Walde umgehen die Chefredaktion des "Stern" und wenden sich stattdessen direkt an die Verlagsleitung. Verlagschef Manfred Fischer bewilligt zwei Millionen Mark für den Ankauf der Tagebücher und beschließt, die Chefredaktion vorerst nicht einzuweihen.
28./29. Januar 1983: Heidemann besucht Konrad Kujau. Schnell werden sich die beiden handelseinig: Kujau soll die angeblich existierenden 27 Tagebuch-Bände über Verwandte aus der DDR beschaffen.
13. Februar 1981: Kujau übergibt Heidemann die ersten drei Bände. Heidemann zahlt in bar, ohne Quittung - der Verlag gibt 85.000 Mark pro Band aus, im späteren Prozess wird Heidemann vorgeworfen, maximal 60.000 Mark an Kujau gezahlt und den Rest unterschlagen zu haben.
April/Mai 1981: Erste Hinweise auf eine Fälschung: Historiker Eberhard Jäckel warnt in einer Fachzeitschrift vor Hitler-Dokumenten aus dubioser Quelle - er selbst hatte gefälschte Dokumente von Kujau erhalten. Walde und Heidemann ignorieren die Warnung. Auch ein Zeitzeuge - ein ehemaliger hochrangiger SS-Offizier - weist Heidemann auf gravierende sachliche Fehler in den Tagebüchern hin, als der ihm Passagen vorliest. Doch Heidemann und Walde hoffen gegen alle Wahrscheinlichkeit, dass der Zeitzeuge sich irrt.
13. Mai 1981: Die Verlagsleitung weiht die "Stern"-Chefredaktion in die geheime Recherche Heidemanns ein. Die Chefredakteure sind empört, entschließen sich aber, die Geschichte mitzutragen.
1. Juli 1981: Gerd Schulte-Hillen übernimmt den Vorstandsvorsitz bei Gruner + Jahr. Erst kurz zuvor war er in das geheime Tagebuch-Projekt eingeweiht worden. Heidemann erhöht die Preise: Statt 85.000 zahlt der Verlag nun 100.000 und später 200.000 Mark pro Band.
13. April 1982: Walde zieht in Zürich den Kriminalwissenschaftler Dr. Frei-Sulzer zu Rate. Nach einem Vergleich von Auszügen aus den Tagebüchern mit anderen Hitler-Handschriften stellt der Schriftexperte fest: Die Handschriften sind echt. Doch was der Wissenschaftler nicht weiß: Auch das zum Vergleich herangezogene Dokument stammt von Fälscher Kujau.
16. April 1982: Auch der Amerikanische Schriftexperte Ordway Hilton kommt zum Ergebnis, dass die Handschrift echt ist - ihm lagen dieselben Dokumente vor wie Frei-Sulzer.
23. April 1982: Das Bundesarchiv in Koblenz, dem vom "Stern" angebliche Originalschriften Hitlers unter der Bedingung einer Echtheitsprüfung zur Überlassung angeboten worden waren, wendet sich mit der Bitte eines entsprechenden Gutachtens einiger Beispiel-Dokumente an das Bundeskriminalamt in Wiesbaden.
14. Oktober 1982: Inzwischen hat der Verlag bereits 6,7 Millionen Mark für die Beschaffung der Tagebücher ausgegeben. Dass bereits weit mehr als die ursprünglich angekündigten 27 Bände vorliegen, lässt weder die Verlagsleitung noch die Redaktion misstrauisch werden.
8. März 1983: Verlag und Redaktion entscheiden über die Veröffentlichungsstrategie für die Tagebücher.
28. März 1983: Experten des Bundeskriminalamts weisen Heidemann darauf hin, dass sich mehr als die Hälfte der untersuchten Dokumente als Fälschungen erwiesen hätten. Für einige Seiten der Tagebücher wurden demnach optische Aufheller verwendet. Dieses Verfahren wird in der Papierherstellung erst seit den 50er-Jahren angewandt. Eine Echtheitsprüfung der weiteren Unterlagen wäre nur durch die Untersuchung von Materialproben möglich.
21. April 1983: "Stern"-Ressortleiter Walde erfährt, dass wichtige Dokumente, die für die Schriftgutachten herangezogen wurden, Fälschungen sind. Bei einer Krisenkonferenz am 23. April wird schriftlich festgehalten, dass die Gutachten damit hinfällig sind.
25. April 1983: Auf einer großen Pressekonferenz verkünden Chefredaktion und Verlagsleitung des "Stern" den sensationellen Fund: Hitlers Tagebücher seien entdeckt worden. Doch sofort kommen ernsthafte Zweifel an der Echtheit der schwarzen Kladden auf.
28. April 1983: Der "Stern" Nr. 18/1983 erscheint - Aufmacher: Die Hitler-Tagebücher. In der Titelgeschichte des Magazins heißt es vollmundig, nun sei eine Revision der deutschen Geschichtsschreibung nötig. Zweifel von Historikern an der Echtheit der Tagebücher weist Chefredakteur Schmidt brüsk zurück, spricht von "Archiv-Ayatollahs".
6. Mai 1983: Alles nur Schwindel: Die Nachrichtenagenturen melden am frühen Nachmittag, dass es sich bei den Hitler-Tagebüchern um Fälschungen handelt. Zu diesem Ergebnis waren Bundesarchiv und Bundeskriminalamt übereinstimmend gekommen. Nicht nur, dass die Handschriften historische Fehler enthalten, sie sind außerdem eindeutig auf Nachkriegspapier geschrieben, die Hefte mit Polyester-Fäden gebunden, die erst seit den 50er-Jahren produziert werden, und die Tinte der meisten Dokumente ist nicht älter als zwei Jahre.
7. Mai 1983: Konrad "Fischer" wird durch "Stern"-Recherchen als Konrad Kujau enttarnt.
Juni 1985: Prozess gegen Gerd Heidemann und Konrad Kujau. Der Fälscher wird zu vier Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt, Reporter Heidemann erhält zwei Monate mehr, da das Gericht davon ausgeht, dass er einen Großteil des Geldes unterschlagen habe.