Erste freie Landtagswahl in MV 1990: Spannung bis zuletzt
Nach der Volkskammerwahl und der Kommunalwahl gehen die Bürger infolge der Wende nur wenige Tage nach der deutschen Wiedervereinigung am 14. Oktober 1990 bereits ein drittes Mal in diesem Jahr an die Urnen. Neben den beiden großen Volksparteien CDU und SPD bewerben sich noch weitere 14 Parteien um die 66 Sitze im Landtag, darunter die PDS, die FDP, Bündnis 90 und die Grünen sowie die von Rostocker Studenten gegründete Biertrinker-Partei.
Kieler Justizminister will Aufbau Ost voranbringen
Als Spitzenkandidaten schickt die SPD Klaus Klingner ins Rennen. Eine Personalie, die auf den ersten Blick nicht unbedingt auf der Hand liegt: Klingner ist damals Justizminister in Kiel. Doch er fühlt sich durch die Wende angestoßen, am Aufbau Ost mitzuarbeiten. Auch die Schönheit der Natur Mecklenburg-Vorpommerns ist für den Hobby-Ornithologen Anreiz, sich im Land zu engagieren. So hatte er sich auch für die Gründung des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft eingesetzt. Nur: Kaum jemand kennt ihn in dem neuen Ost-Bundesland.
Alfred Gomolka ist Spitzenkandidat der CDU
Auch Alfred Gomolka, der Spitzenkandidat der Christdemokraten, ist für viele noch ein unbekanntes Gesicht. Er hat sich in einer Stichwahl überraschend gegen den Schweriner Georg Diederich durchgesetzt - und er gilt als Ziehsohn des CDU-Politikers Günther Krause. Der hatte erst im August 1990 den Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der "Noch-DDR" unterschrieben.
"Schickt Kohl und Krause nach Hause!"
In seiner Rolle als Unterhändler der Regierung de Maizière und in den Medien oft an der Seite von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) dürfte Krause in dieser Zeit einer der bekanntesten Politiker aus Mecklenburg-Vorpommern sein. Kohl nimmt den Landesvorsitzenden der CDU im Sommer 1990 mit auf Wahlkampftour zur Bundestagswahl im Dezember. Gemeinsam reisen sie im Sommer den ganzen Nordosten ab, füllen Hallen. Doch es gibt nicht nur Zustimmung für die Parolen der CDU. "Schickt Kohl und Krause wieder nach Hause!" skandieren politische Gegner, in Schwerin fliegen Tomaten.
Situationen, die sich auch auf den Landtags-Wahlkampf ausgewirkt haben dürften. "Die Stimmung im Land war unberechenbar und die Ängste der Bürger den Veränderungen gegenüber riesig", erinnerte sich Krause Jahre später an die Wahlkampfzeit. In Mecklenburg-Vorpommern verzichten die beiden Spitzenkandidaten Gomolka und Klingner daher auf einen harten Wahlkampf - die Wahrscheinlichkeit einer Großen Koalition wird von vielen Beobachtern und Beratern als recht hoch eingeschätzt.
Wahlkampf-Maschinerie gegen "Taktik der 1.000 Gespräche"
Doch gekämpft wird trotzdem, allerdings mit unterschiedlichen Voraussetzungen: Die CDU kann auf die Infrastrukturen ihrer Schwesterparteien CSU und Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) im Osten zurückgreifen und verfügt so über Druckmaschinen, Telefone, Helfer und Geld. Die in der DDR neu gegründete SPD hingegen hat erst wenige Mitglieder geworben und keine Vergangenheit als Blockpartei. "Wie eine Dampfwalze" sei der Wahlkampftross von Kohl und Krause übers Land gezogen, erinnerte sich Klingner einige Jahre später im Gespräch mit dem NDR. Er selbst habe die "Taktik der 1.000 Gespräche" verfolgt, um die Wähler für sich zu gewinnen. Durch seine vielen Verwandten im Nordosten hatte Klingner immerhin Übernachtungsmöglichkeiten - und wo er noch niemanden kannte, wurde er in Seemannsheimen, Fischerklausen oder auch einmal im Gästehaus des Atomkraftwerkes in Greifswald untergebracht.
CDU verspricht Autobahn für den Norden
Die Christdemokraten setzten auf ein großes Versprechen: Eine Ostsee-Autobahn von Lübeck nach Stettin wollten sie bauen, um den Norden besser an Schleswig-Holstein anzubinden. Ab 1992 wird die Bundesautobahn 20, die als großes Verkehrsprojekt der Deutschen Einheit gilt, tatsächlich gebaut.
Blühende Landschaften im Nordosten?
Sozialdemokrat Klingner hingegen tut sich mit Versprechen schwer - zumindest mit dem der rosigen Zukunft für alle in Mecklenburg-Vorpommern. Die Sorgen, von denen ihm die Bürger in seinen Wahlkampf-Gesprächen berichten, bezeichnete er rückblickend als "kaum erträglich". In den Kombinaten kann er nur wenig Hoffnung auf eine erfolgreiche Weiterarbeit verbreiten, Mietern nur selten die Angst vor Mieterhöhungen und den Alt-Eigentümern nehmen. "Blühende Landschaften" kann er - anders als Bundeskanzler Kohl - nicht versprechen. Vielmehr macht ihn dieser Slogan zornig - provoziere er die Enttäuschungen der Ostdeutschen doch geradezu.
Patt: Jeweils 33 Sitze für beide Blöcke
Die Umfragen vor der Landtagswahl sehen die Christdemokraten, die bereits die Kommunalwahlen im Mai gewonnen hatten, vorne. Und auch am Wahltag sieht es zunächst nach einem klaren Sieg für die bürgerliche Fraktion aus. Doch Skeptiker sollen Recht behalten: Die Hochrechnungen am Abend zeigen eine Patt-Situation. Am nächsten Tag steht fest, dass die CDU mit 38,3 Prozent zwar zur stärksten Partei im Nordosten gewählt worden ist und mit der FDP (5,4 Prozent) eine Koalition bilden kann. Die SPD (27 Prozent) und die PDS (15,6 Prozent) bilden allerdings eine ebenso starke Opposition: Beide Blöcke haben jeweils 33 Sitze.
Kleine Parteien schaffen Fünf-Prozent-Hürde nicht
Auch die anderen neuen Bundesländer wählen am 14. Oktober 1990 - und fast überall liegt die CDU vorn. Mecklenburg-Vorpommern allerdings ist das einzige Ost-Land ohne Vertreter des Neuen Forums in der Regierung. Persönliche Zwistigkeiten unter den linken Gruppierungen hatten einen gemeinsamen Auftritt als Partei verhindert - was sich nun als schwerwiegender Fehler erweist: Keine der kleinen Parteien kann die Fünf-Prozent-Hürde nehmen, auch wenn sie zusammen fast zehn Prozent der Wähler überzeugt haben.
Ein Überläufer löst die Patt-Situation
Für den Sozialdemokraten Klingner zeichnet sich schon am Wahlabend ab, dass er in der Patt-Situation weder Ministerpräsident noch Vize werden sollte. Die Verbindungen der CDU zu den alten Kadern hätten für Gomolka auch eine Minderheitsregierung möglich gemacht, so seine Einschätzung.
Komfortabler lässt es sich allerdings mit einer klaren Mehrheit regieren. Und so bringt ein Parteiloser, ehemals im Rostocker Kreisverband der SPD, schließlich die Lösung für den CDU-Spitzenkandidaten Gomolka: Wolfgang Schulz hat sein SPD-Parteibuch vier Wochen vor der Wahl zurückgegeben. Vorangegangen war ein wochenlanger Dissens über die Frage, ob Schulz Zuträger der Staatssicherheit gewesen sei. Das zumindest hatten Parteigenossen verbreitet. Tatsächlich konnte Schulz das Gegenteil beweisen. Mit seiner Partei wollte er sich aber nicht versöhnen. Stattdessen paktiert er nun mit der CDU und dient Gomolka als Mehrheitsbeschaffer.
Kurze Amtszeit des ersten Ministerpräsidenten Gomolka
Am 27. Oktober 1990 wird Alfred Gomolka zum ersten Ministerpräsidenten Mecklenburg-Vorpommerns im geeinten Deutschland gewählt - mit 36 zu 29 Stimmen und einer Enthaltung. Bereits am 16. März 1992 tritt er allerdings schon wieder zurück: Seine Haltung in der Werftenkrise - als einziger deutscher Politiker stemmt er sich gegen den Komplett-Verkauf des ostdeutschen Schiffbaukombinats an die Bremer Vulkan AG - bringt ihn zunehmend unter Druck. Mecklenburg-Vorpommerns Justizminister Ulrich Born (CDU) gehört - auch in dieser Angelegenheit - zu Gomolkas schärfsten Kritikern und wird von ihm im März wegen "Illoyalität" aus dem Amt entlassen. Die eigene Fraktion rückt daraufhin von ihm ab. Am 24. März 2020 ist Gomolka in Loitz (LK Vorpommern-Greifswald) gestorben.
Klaus Klingner ist nach der Wahl zurück nach Kiel gegangen und war dort weitere sechs Jahre Justizminister.