"Emilia Galotti" am Thalia Theater - eine kühle Machtanalyse
Die gefeierte Regisseurin Anne Lenk bringt Gotthold Ephraim Lessings bürgerliches Trauerspiel als letzte Premiere der Spielzeit auf die Bühne. Doch dem großartig gespielten Stück geht die Luft aus.
Lessing hat einen Psychokrimi geschrieben, ein böses Kammerspiel, ein Missbrauchsdrama: Ein Prinz liebt ein bürgerliches Mädchen, Emilia, und er will sie haben. "Ah, schönes Meisterwerk der Kunst, ist es wahr, dass ich dich besitze?", schmachtet er.
Er lässt ihren Verlobten, mit dem sie kurz vor der Ehe steht, umbringen – und entführt sie auf sein Schloss. Und dann passiert etwas ganz Unglaubliches: Der Prinz erfährt Widerspruch vom Vater des Mädchens. Und am Ende bittet die Titelfigur Emilia Galotti ihren Vater, sie zu töten. Weil sie die Schande nicht erträgt.
Eine Frauenfigur, die ihre eigene Rolle ablegt
"Also ich hab natürlich den Tod der Tochter vermisst, ich meine, man erwartet, dass er sie ersticht, ne, völlig zu Unrecht natürlich!, sagt eine Zuschauerin. Genau, in Anne Lenks Inszenierung fehlt dieser tragische Schluss. Stattdessen wehrt sie sich: "Ich bin nicht mehr eure Emilia." Eine Frauenfigur, die ihre eigene Rolle ablegt.
Dieser Abend will Lessings Drama erzählen und wieder nicht. Unentschlossen bleibt er eine eher kalte Analyse von Machtstrukturen – und weiblichen Rollenbildern. Entsprechend verhalten bis ratlos sind die Reaktionen des Publikums. "Ich glaube, die Radikalität und die Kontroverse ist gewollt, aber nicht gut umgesetzt", urteilt eine Zuschauerin. "Ich fand's so mittelmäßig langweilig. Hätte ich den Inhalt nicht vorher nachgelesen, hätte ich es nicht verstanden. Ich weiß nicht, was die Regisseurin daraus entwickeln wollte", sagt ein Zuschauer.
Die Regisseurin Anne Lenk nimmt sich immer wieder Klassiker vor, um sie neu zu erfinden. Das gelingt oft fabelhaft, diesmal leider nicht. Sie stellt ihre Figuren, den Prinzen, seine Hofschranze mit güldenen Perücken und barocken Kostümen vor eine klaustrophobisch wirkende grünliche Backsteinwand. Umgeben ist das Bühnenbild von einem Lichtrahmen – wie beim Objektiv einer Kamera knipst sie grelles Licht an – und wieder aus. Lessing wird sozusagen abfotografiert. Optisch in Scheiben geschnitten.
Dadurch entsteht ein ermüdender Rhythmus. Anne Lenk serviert aber beste Sprachregie – das Ensemble brilliert. Besonders hervorzuheben? Cathérine Seifert als sichtlich müffelndes Ungeheuer im Muskelpaket-Panzer. Als fieser Intrigant des Prinzen bringt sie das Drama ins Rollen.
Maja Schöne brilliert in ihrer Doppelrolle
Und Maja Schöne, sie hat eine Doppelrolle. Emilia Galotti und die Gräfin Orsina, die frühere Geliebte des Prinzen. Zwei Frauen: ein Mädchen, das sich emanzipiert, eine Frau, die sich wehrt. Großartig.
Die Backsteinwand verschiebt sich unmerklich nach jedem Lichtwechsel, gibt Räume frei, in denen die junge Frau zu ersticken scheint. Die Kostüme, grell, fast dadaistisch – so atemlos der Krimi erst erzählt wird, so sehr geht ihm am Ende die Luft aus, erstarrt in Gesten und festgefrorener Künstlichkeit.
Lessing wusste es vor 250 Jahren schon besser
"Wer soll ich sein, was soll ich tun, wie soll ich sein?", ruft Emilia verzweifelt aus. Fragen, die Lessing in sein Stück bereits eingebaut hat, diesen Widerstand der Frau gegen das Patriarchat, gegen männlichen Missbrauch. Hier wirkt das fast ein bisschen nachgeplappert. Lessing wusste es schon 1772 besser.
"Emilia Galotti" am Thalia Theater - eine kühle Machtanalyse
Als letzte Premiere der Spielzeit kommt das bürgerliche Trauerspiel auf die Bühne - so recht gelungen ist es nicht.
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Thalia Theater
Alstertor
20095 Hamburg