Bernd Grawert als Odoardo Galotti und Merlin Sandmeyer als Graf Appiani vor einer Projektion des Gesichts von Maja Schöne als Emilia Galott am Thalia Theater © Krafft Angerer
Bernd Grawert als Odoardo Galotti und Merlin Sandmeyer als Graf Appiani vor einer Projektion des Gesichts von Maja Schöne als Emilia Galott am Thalia Theater © Krafft Angerer
Bernd Grawert als Odoardo Galotti und Merlin Sandmeyer als Graf Appiani vor einer Projektion des Gesichts von Maja Schöne als Emilia Galott am Thalia Theater © Krafft Angerer
AUDIO: Eine unentschlossene "Emilia Galotti" am Thalia Theater (4 Min)

"Emilia Galotti" am Thalia Theater - eine kühle Machtanalyse

Stand: 02.06.2024 12:06 Uhr

Die gefeierte Regisseurin Anne Lenk bringt Gotthold Ephraim Lessings bürgerliches Trauerspiel als letzte Premiere der Spielzeit auf die Bühne. Doch dem großartig gespielten Stück geht die Luft aus.

von Peter Helling

Lessing hat einen Psychokrimi geschrieben, ein böses Kammerspiel, ein Missbrauchsdrama: Ein Prinz liebt ein bürgerliches Mädchen, Emilia, und er will sie haben. "Ah, schönes Meisterwerk der Kunst, ist es wahr, dass ich dich besitze?", schmachtet er.

Er lässt ihren Verlobten, mit dem sie kurz vor der Ehe steht, umbringen – und entführt sie auf sein Schloss. Und dann passiert etwas ganz Unglaubliches: Der Prinz erfährt Widerspruch vom Vater des Mädchens. Und am Ende bittet die Titelfigur Emilia Galotti ihren Vater, sie zu töten. Weil sie die Schande nicht erträgt.

Eine Frauenfigur, die ihre eigene Rolle ablegt

"Also ich hab natürlich den Tod der Tochter vermisst, ich meine, man erwartet, dass er sie ersticht, ne, völlig zu Unrecht natürlich!, sagt eine Zuschauerin. Genau, in Anne Lenks Inszenierung fehlt dieser tragische Schluss. Stattdessen wehrt sie sich: "Ich bin nicht mehr eure Emilia." Eine Frauenfigur, die ihre eigene Rolle ablegt.

Dieser Abend will Lessings Drama erzählen und wieder nicht. Unentschlossen bleibt er eine eher kalte Analyse von Machtstrukturen – und weiblichen Rollenbildern. Entsprechend verhalten bis ratlos sind die Reaktionen des Publikums. "Ich glaube, die Radikalität und die Kontroverse ist gewollt, aber nicht gut umgesetzt", urteilt eine Zuschauerin. "Ich fand's so mittelmäßig langweilig. Hätte ich den Inhalt nicht vorher nachgelesen, hätte ich es nicht verstanden. Ich weiß nicht, was die Regisseurin daraus entwickeln wollte", sagt ein Zuschauer.

Weitere Informationen
Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne des Thalia Theaters © Thalia Theater/ Krafft Angerer Foto: Krafft Angerer

"Drei Schwestern" in Hamburg: Herzzerreißend und komisch

Anton Tschechows Stück hatte am Thalia Theater Premiere. Ein Abend ohne russische Klischees, aber mit einem begeisterten Publikum. mehr

Die Regisseurin Anne Lenk nimmt sich immer wieder Klassiker vor, um sie neu zu erfinden. Das gelingt oft fabelhaft, diesmal leider nicht. Sie stellt ihre Figuren, den Prinzen, seine Hofschranze mit güldenen Perücken und barocken Kostümen vor eine klaustrophobisch wirkende grünliche Backsteinwand. Umgeben ist das Bühnenbild von einem Lichtrahmen – wie beim Objektiv einer Kamera knipst sie grelles Licht an – und wieder aus. Lessing wird sozusagen abfotografiert. Optisch in Scheiben geschnitten.

Maja Schöne als Emilia Galotti in der Inszenierung des Stückes am Thalia Theater © Krafft Angerer
Maja Schöne füllt ihre beiden Rollen fabelhaft aus.

Dadurch entsteht ein ermüdender Rhythmus. Anne Lenk serviert aber beste Sprachregie – das Ensemble brilliert. Besonders hervorzuheben? Cathérine Seifert als sichtlich müffelndes Ungeheuer im Muskelpaket-Panzer. Als fieser Intrigant des Prinzen bringt sie das Drama ins Rollen.

Maja Schöne brilliert in ihrer Doppelrolle

Und Maja Schöne, sie hat eine Doppelrolle. Emilia Galotti und die Gräfin Orsina, die frühere Geliebte des Prinzen. Zwei Frauen: ein Mädchen, das sich emanzipiert, eine Frau, die sich wehrt. Großartig.

Die Backsteinwand verschiebt sich unmerklich nach jedem Lichtwechsel, gibt Räume frei, in denen die junge Frau zu ersticken scheint. Die Kostüme, grell, fast dadaistisch –  so atemlos der Krimi erst erzählt wird, so sehr geht ihm am Ende die Luft aus, erstarrt in Gesten und festgefrorener Künstlichkeit.

Weitere Informationen
Ein Paar in einer Küche: Sie sitzt an einem Tisch und hält ein Glas in der Hand, er steht hinter ihr an einer Arbeitsplatte. © Armin Smailovic

"Schande" am Thalia Theater: Klaustrophobie auf der Wohlfühl-Insel

Mattias Andersson hat Ingmar Bergmanns Film aus dem Jahr 1968 neu interpretiert. Am Freitag war Uraufführung am Thalia in der Gaußstraße. mehr

Lessing wusste es vor 250 Jahren schon besser

"Wer soll ich sein, was soll ich tun, wie soll ich sein?", ruft Emilia verzweifelt aus. Fragen, die Lessing in sein Stück bereits eingebaut hat, diesen Widerstand der Frau gegen das Patriarchat, gegen männlichen Missbrauch. Hier wirkt das fast ein bisschen nachgeplappert. Lessing wusste es schon 1772 besser.

 

Weitere Informationen
André Szymanski und Tim Porath in einer Szene © Krafft Angerer/Thalia Theater Foto: Krafft Angerer

"State of Affairs": Fulminante und bitterböse Komödie am Thalia Theater

Regisseurin Yael Ronen ist mit ihrem großartigen Ensemble und "State of Affairs" ein rasanter, kluger Abend gelungen. mehr

Sonja Anders steht vor dem Eingang des Hamburger Thalia Theaters. © picture alliance / dpa Foto: Christian Charisius

Sonja Anders: Neue Ideen und Gefühle für das Thalia Theater

Die designierte Nachfolgerin von Intendant Joachim Lux hat sich in der Hansestadt vorgestellt. mehr

Ein Mann mit Brille sitzt neben technischen Geräten auf einer blauen Bank und lächelt. © NDR Foto: Peter Helling
3 Min

Diversity Day: Referent für Diversität am Thalia Theater

Mohammed Ghunaim kümmert sich seit vier Jahren um Vielfalt und Toleranz auf und hinter der Bühne. 2022 wurde er zum Hamburger des Jahres gewählt. 3 Min

"Emilia Galotti" am Thalia Theater - eine kühle Machtanalyse

Als letzte Premiere der Spielzeit kommt das bürgerliche Trauerspiel auf die Bühne - so recht gelungen ist es nicht.

Datum:
Ende:
Ort:
Thalia Theater
Alstertor
20095 Hamburg
In meinen Kalender eintragen

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Sonntag | 02.06.2024 | 14:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Theater

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Charlie Hübner sitzt an einem Tisch. © Thomas Aurin

Charly Hübner als wandelbarer Antiheld in "Late Night Hamlet"

Munteres Late Night Geplauder trifft auf Shakespeare-Drama - so das Setting für den Solo-Abend im Schauspielhaus Hamburg. mehr