Von Anfang bis Abschied: 51 Jahre John Neumeier
Mit der Nijinsky Gala endet für John Neumeier seine Ära als Ballettintendant an der Hamburgischen Staatsoper. Der 85-jährige Choreograf hat das Hamburg Ballett und ganz nebenbei sich selbst weltberühmt gemacht.
Begonnen hatte alles 1973: Der damalige Intendant der Hamburgischen Staatsoper August Everding holte den amerikanischen Tänzer und Choreografen John Neumeier an die Elbe. Begonnen hat alles mit ziemlichem Ärger: Neumeier wollte 16 Tänzer-Verträge nicht verlängern. Was, heute würde man sagen, einen ziemlichen Shitstorm zur Folge hatte.
Als "außerordentlich belastet" habe er seinen Start damals empfunden, erinnert er sich in einem Interview zu seinem 80. Geburtstag: "Ich kann nur sagen, von Anfang an habe ich immer versucht mit Ehrlichkeit Menschen gegenüberzustehen. Es ist wichtig, dass ein Ballettdirektor eine Antwort hat und das man sich nicht vor der Compagnie versteckt."
John Neumeiers Ruf geht weit über die Grenzen Hamburgs hinaus
Wenig später erobert er mit seiner ersten Ballettwerkstatt sein Publikum. John Neumeier ist damals 34 Jahre alt und der jüngste Ballettdirektor, den die Tanzwelt je gesehen hatte. Die Ballettwerkstätten werden so beliebt, dass man nur schwer Karten dafür bekommt - und noch bekannter, weil sie vom NDR Fernsehen aufgezeichnet werden. 1978 gibt es dafür die Goldene Kamera.
John Neumeier meint es ernst. Er fordert. Schnell setzt er sich für bessere Trainingsbedingungen ein, will mehr Auftritte in der Staatsoper. 1985 wirft er sogar seinen Job in die Waagschale: Entweder ein Ballettzentrum oder ich gehe. Schließlich bekommt der Ballettchef das Haus. Seit 1989 ist das Ballettzentrum in Hamburg-Hamm tänzerisches Herzstück der Stadt. Sein Ruf geht aber weit über die Grenzen Hamburgs hinaus. Hier trainiert auch das Bundesjugendballett, das John Neumeier 2011 ins Leben gerufen hat. In der Ballettschule werden junge Tanztalente ausgebildet. Auch für das Hamburg Ballett.
Neumeier-Choreografien gehen neue Wege
Mit seinen Choreografien geht John Neumeier neue Wege. Er zeigt seinen "Othello" Mitte der 80er Jahre in der Kulturfabrik Kampnagel. Ein Theater weit entfernt von einer Staatsopernbühne. Mit Bachs Matthäus-Passion verlegt Neumeier das Ballett in die Kirche. Geistliche Musik auf der Ballettbühne galt für viele als undenkbar. Neumeier war fasziniert von dieser Musik, die für ihn, den Christen, einen tiefen Glauben ausdrückte. 1993, mit 54 Jahren, tanzte er selbst noch in der Matthäus Passion den Christus.
Seine Ballette soll man fühlen. Die Zerrissenheit eines Peer Gynt, die Verzweiflung Nijinskys, die Leidenschaft der Duse. "Ich sehe Ballett nicht als reine Unterhaltung", sagte er. "Ich denke, ich gehe ins Theater, weil ich etwas über mich erfahren will."
Weltstars an der Seite
Von Anfang an hat er auch Stars an seiner Seite: Ausnahmetänzer Mikhail Baryschnikow war schon bei der ersten Nijinsky Gala 1974 da. Rudolf Nurejew wird für Mahler angefragt. Leonard Bernstein wird zum Freund. Jil Sander kommt zur Kostümprobe. Neumeier arbeitet mit Giorgio Armani. Die dänische Königin Margrethe II. reist zu seinen Vorstellungen an. Zu seinem 50. Jubiläum kommt dann auch schon mal der Bundeskanzler Olaf Scholz: "Der heutige Abend hat uns allen nochmal gezeigt, was für ein Glück Hamburg hatte, als sie sich vor einem halben Jahrhundert für die Stadt entschieden haben." Der Choreograf ist gefragt in Japan und New York, Paris oder Wien. Er trägt Hamburg in die Welt hinaus. Unablässig.
"John Neumeier hat nicht nur für Hamburg eine Bedeutung. John Neumeier ist ein Weltstar des Balletts. Und drunter kann man es auch gar nicht machen, glaube ich. Er ist momentan die wahrscheinlich prägendste choreografische Persönlichkeit, die auf diesem Globus wirkt. Und dass er das über fünf Jahrzehnte in Hamburg gemacht hat, dass er diese einzigartige Compagnie geformt hat, das er diesen Ballettkorpus von über 170 Choreografien geschaffen hat - das sind alles herausragend und wahrscheinlich erst mit einem Abstand von zehn, 20, 30 Jahren so richtig zu bemessende Leistungen. Er ist ein Gigant des Balletts, wenn Sie es in einem Satz haben wollen", sagt Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda nach Neumeiers letzter Premiere an der Staatsoper zum Auftakt der Balletttage.
John Neumeier glaubt an seine Kunst
Über 170 Ballette hat John Neumeier inzwischen kreiert - bei den meisten auch das Bühnenbild, die Kostüme, das Licht dazu. Und er sammelt: Er sei eine "Sitting Duck", eine "leichte Beute", wenn es darum geht, irgendwo auf der Welt etwas zu kaufen, was mit Ballettgeschichte zu tun hat, verriet er einmal. Inzwischen ist seine Sammlung weltweit einzigartig.
Neumeiers Stücke werden in der Regel gefeiert. Kritik gab es vor Kurzem an der Freigabe seines Balletts Anna Karenina für das Bolschoi. Oder an seinem Othello, der rassistische Stereotype zeige. Neumeier wehrt sich, begründet, bekommt Unterstützung. Er glaubt an seine Kunst und das glaubt man ihm.
Ganz nah beim Publikum und "seinen" Tänzern
Bei jeder Ballettvorstellung sitzt John Neumeier rechts vorne in der ersten Reihe. Zuletzt ganz besonders vom Publikum beobachtet. "Die Tänzer spüren, dass ich da bin" hat er mal gesagt: "Ich beobachte die Tänzer und ich beobachte auch meine Arbeit, ob ich glücklich damit bin, das heißt, ob ich das glaube, was ich sehe."
Auch bei seiner letzten Nijinsky Gala als Ballettchef in Hamburg wird er dort sein, wo sich sein Leben 51 Jahre lang abgespielt hat. Und er wird mit denen sein, die wohl das Wichtigste für ihn waren und bleiben: seine Tänzer und Tänzerinnen.