"Die spürst du nicht": Daniel Glattauers bewegender Roman
Nach neun Jahren kommt ein neuer Roman von Daniel Glattauer heraus. Zwar wirkt einiges in "Die spürst du nicht" konstruiert, aber die Geschichte ist abwechslungsreich und kurzweilig.
Wie in einem Film führt uns Daniel Glattauer an den ersten Schauplatz seines Romans:
Wir sehen einen gedeckten Terrassentisch, überdacht mit einer vanillefarbenen Plane, flankiert von Steinmauern eines Landhauses im warmen, ockergelben Licht. Weiter hinten schlängelt sich die dunkelgrüne Zierleiste einer Platanenallee durch die flimmernde Landschaft. Leseprobe
Unverkennbar: Italien, die Toskana. Die Geschichte beginnt gelöst und vorfreudig. Zwei befreundete Familien treffen sich hier, um Ferien zu machen: die Binders und die Strobl-Marineks und ihre drei Kinder. Mit dabei ist auch eine Freundin der ältesten Tochter: Aayana, aus Somalia.
Und es war ein wahres Husarenstück der Strobl-Marineks, das somalische Flüchtlingskind mit auf die Reise zu nehmen, Aayana aus der muslimischen Zwangsjacke ihrer Familie zu schälen, vorübergehend vom Kopftuch zu befreien und in eine Geländelimousine zu setzen, die sie in echte europäische Sommerferien der gehobenen Klasse bringen würde. Leseprobe
Wut und Trauer nach tragischem Unglück
Daniel Glattauer braucht noch nicht einmal 40 Seiten, um die scheinbar perfekte Idylle mit Pool implodieren zu lassen. Es kommt zu einem Unglück. Der Urlaub vorbei, danach ist alles anders.
Zurück in Österreich versuchen beide Familien ihr "altes" Leben wieder aufzunehmen. Besonders hart ist das für die 14-jährige Sophie Luise. Sie muss allein mit ihrer Trauer und der Wut klarkommen - die Erwachsenen haben keine Zeit für sie. Im Internet lernt sie den mysteriösen Pierre kennen, der sie mit seinen Zeichnungen aufzuheitern versucht. Durch Chats lernen sie sich näher kennen:
Sie: Hallo Pierre, ich hab eine Frage, die mich beschäftigt. Wieso weint dein Äffchen eigentlich immer?
Er: Hallo So-Lu. Was ist Äffchen?
Sie: Äffchen heißt kleiner Affe, das sagt man bei uns so. Was Affe heißt, weißt du aber schon, oder? Ich meine deine Figur, deine Zeichnung, deinen Pierre pour vous, den kleinen Affen, dem immer die Tränen aus den Augen schießen. Warum weint er immer?
Er: Das ist nicht Affe, das ist Mensch, anders Mensch, traurig Mensch. Das ist wie ich. Pierre pour vous ist ich.
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Daniel Glattauer legt den Finger in die Wunde
Da ist er wieder, der schnelle, direkte Glattauer-Austausch. In früheren Büchern waren es Mails, heute sind es Chats und Kommentare aus Internet-Foren, mit denen Daniel Glattauer seinen Erzähltext unterbricht, aber auch spiegelt. Dadurch bekommt der Roman eine zusätzliche Ebene - das ist schlau.
Eingestreut werden außerdem kurze Pressemitteilungen. Sie bringen die Leser*innen auf den neusten Ermittlungsstand. Denn das Unglück in Italien hat ein juristisches Nachspiel in Österreich. Das wird vor allem für Elisa Strobl-Marinek zur Belastungsprobe, die als Politikerin in der Öffentlichkeit steht.
Daniel Glattauer schaut ganz genau hin, legt oft den Finger in die Wunde. Dabei zeichnet er seine Figuren sehr genau, manchmal bis zum Rand der Karikatur. Zwar wirkt einiges in diesem Roman konstruiert, aber das nimmt man ihm nicht übel, denn die Geschichte ist abwechslungsreich und kurzweilig. Fast atemlos bleibt man dran. Am Ende berührt und bewegt der Roman. Denn es geht - wie Daniel Glattauer es selbst formuliert: "Um Menschen, von denen wir nichts wissen wollen, weil wir sie nicht spüren."
Die spürst du nicht
- Seitenzahl:
- 304 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Zsolnay
- Bestellnummer:
- 978-3-552-07333-3
- Preis:
- 25 €