Eine Frau mit dunklen, glatten Haaren und Pony steht vor einer hellen Wand und schaut in die Kamera © Lisa Bogerts

Konfliktforscherin Bogerts zu Treckerblockaden und Klimaklebern

Stand: 04.07.2024 08:14 Uhr

Kartoffelbrei auf Monet, Treckerblockaden oder Klimakleber bekommen gerade als Protestformen viel Aufmerksamkeit. Ziviler Ungehorsam gehört aber traditionell zum festen Repertoire von politischem Protest, sagt Lisa Bogerts

Eine Frau mit dunklen, glatten Haaren und Pony steht vor einer hellen Wand und schaut in die Kamera © Lisa Bogerts
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Das lateinische Wort "ziviles", das meint "bürgerlich", also "bürgerlicher Ungehorsam". Den Ausdruck hat der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau in seinem Essay über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat von 1849 geprägt. Er erklärt darin, warum er aus Protest gegen den Krieg gegen Mexiko und die Sklavenhaltung keine Steuern mehr bezahlte. Grundsätzlich versteht man unter zivilem Ungehorsam einen absichtlichen Gesetzesbruch für ein soziales Ziel. Das Ziel das besteht in der Regel darin, Gesetze oder die Politik der Regierung zu ändern. Es handelt sich um eine Form politischer Partizipation. Der Ungehorsame will auf eine Situation aufmerksam machen, die er als Unrecht wahrnimmt.

Ziviler Ungehorsam ist auf jeden Fall eine umstrittene Form des Protests. Kritiker kontern, dass Protestierende unabhängig von ihrem Motiv kein Recht haben, sich über das Gesetz zu stellen. Der Mensch, der ungehorsam handelt, beruft sich hingegen auf ein höheres Recht - eine Art Naturrecht im Gegensatz zum sogenannten positiven Recht, das der Mensch selbst erdacht hat.

Der "National Disobedience Day" - hier bekannt als "Tag des zivilen Ungehorsams" - ist ein Anstoß, darüber nachzudenken, welche Rolle Ungehorsam in unseren Gesellschaften spielt. Wann ist er angebracht? Wann nicht? Die freischaffende Protest- und Konfliktforscherin Lisa Bogerts erklärt Formen, Traditionen und Hintergründe des Protests.

Frau Bogerts: Wie würde Ihre Definition des Begriffs ziviler Ungehorsam lauten?

Lisa Bogerts: Allgemein definiere ich zivilen Ungehorsam als bewussten Bruch von Regeln und Gesetzen als Protestmittel. Das heißt, das ist eine bewusste Regelverletzung, bei der Protestierende vorsätzlich und auch meistens angekündigt Gesetze verletzen und eine Strafe bewusst in Kauf nehmen. Sie beziehen sich dabei auf höhere Werte und moralisches Gewissen.

Aber das ist individuell, wie die Menschen das einschätzen. Wir hatten Trecker auf Autobahnen, Kartoffelbrei auf Kunstwerken, Aktivisten mit Sekundenkleber auf Straßen. Es wurde von der Öffentlichkeit sehr unterschiedlich eingeschätzt, ob das nur ziviler Ungehorsam oder sogar Terrorismus sei.

Bogerts: Moralisches Empfinden ist sehr individuell und auch die Dringlichkeit von Problemen wird unterschiedlich empfunden. Das ist die Kernfrage bei der Frage nach der Legitimität: Wie dringlich ist ein politisches Anliegen, dass es sich lohnt, dafür solche extremen Mittel in Kauf zu nehmen? Ziviler Ungehorsam dient dazu, so eine Debatte auch in Gang zu stoßen, dass sich die Menschen individuell fragen: Wie wichtig ist mir dieses Anliegen? Das ist auch teilweise gewollt von den Menschen, die das anwenden.

Wie sehen Sie das? Haben wir im Lichte der großen Krisen unserer Zeit erstaunlich viele oder erstaunlich wenige Ereignisse zivilen Ungehorsams?

Bogerts: Zumindest gibt es gerade sehr viel Aufmerksamkeit für diese Art des Protests. Ziviler Ungehorsam gehört traditionell zum festen Repertoire von politischem Protest. Er ist historisch wirklich fest verankert. Das ist kein neues Phänomen. Ich erkläre mir das damit, dass es derzeit sehr viel Aufmerksamkeit gibt, gerade weil sich viele Fälle auf die Klimakrise beziehen. Die Menschen greifen hier zu diesen Formen des Ungehorsams, weil sie auf die besondere Dringlichkeit und auch die extremen Konsequenzen aufmerksam machen wollen, weshalb sie eben auch die möglichen rechtlichen Folgen dafür in Kauf nehmen. Die Menschen fühlen sich von diesen Formen sehr angesprochen, weil es eine große Uneinigkeit dazu gibt, wie legitim es ist, aufgrund der Dringlichkeit der Klimakrise - oder eben auch nicht wahrgenommenen Dringlichkeit - zu solchen extremen Mitteln zu greifen. Ich glaube, deshalb wird diese Form gerade sehr viel genutzt und erregt auch sehr viel mediale Aufmerksamkeit. Darum scheint es uns so, als würde es gerade auch besonders viele Fälle davon geben.

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Welche Rolle spielt der Begriff in der Digitalität, also in Protestmöglichkeiten online und in den sozialen Medien?

Bogerts: Wenn wir an zivilen Ungehorsam denken, haben wir meistens den physischen Protest auf der Straße im Kopf, zum Beispiel Sitzblockaden als ganz klassischen Fall. Regeln und Gesetze kann man aber natürlich auch im Internet brechen. Seit Mitte der 1990er-Jahre sind auch Formen von digitalem oder elektronischem zivilem Ungehorsam bekannt. Klassisch ist da natürlich das Hacking, also der unerlaubte Eingriff in Computersysteme anderer. Man spricht da von "Hacktivism", wenn man also politischen Protest und Aktivismus in Form von von Hacking betreibt. Gängige Formen sind sogenannte DDoS-Attacken, das steht für Distributed Denial of Service. Das heißt: Man legt quasi kollektiv die Websites oder die Netzwerke von Firmen lahm oder von politischen Institutionen, um somit ihr Handeln zu kritisieren oder zu unterbinden. Andere Formen sind: digitales Whistleblowing oder Doxing. Dabei wird auf vertrauliche Dokumente und Informationen der Gegenseite zugegriffen, wie zum Beispiel im Fall von Wikileaks. Durch die digitalen Medien kommen ganz neue Debatten über zivilen Ungehorsam auf. Was bedeutet internationale Öffentlichkeit in dem Fall? Was bedeutet auch das "zivil". In "ziviler Ungehorsam" steht es dafür, dass das gewaltlos oder friedlich ist, und da stellt sich natürlich die Frage, was gewaltlos im digitalen Kontext überhaupt bedeutet.

2017 haben sie de Artikel "Ästhetik als Widerstand" im Magazin "Peripherie" geschrieben. Darin beziehen sie zivilen Ungehorsam auch auf kulturelle Produktionen, auf Kunst, auf Theater. Wie kann das denn passieren? Wie sieht das aus?

Bogerts: Kunst und Kultur spielen traditionell eine sehr große Rolle für politische Akteure, sowohl für die Festigung von politischer Herrschaft als auch für ihre Infragestellung. Kunst kann Menschen einen anderen Zugang zu politischen, sozialen oder gesellschaftlichen Phänomenen ermöglichen, weil sie Menschen auf sensorische Weise anspricht, also durch körperliche Sinne, wie: sehen, hören, spüren.

Somit kann Kunst auch rationale und kognitive Argumente einer politischen Debatte zusammen vermitteln mit emotionalen und sinnlichen Reizen - also insbesondere, wenn sie schön sind, wenn ich etwas als ästhetisch erlebe. Dadurch können Menschen sich teilweise viel stärker identifizieren und sich von politischen Aussagen angezogen fühlen.

Diese Kraft des Ästhetischen hat die Politik seit jeher genutzt, sowohl von oben, durch Herrschende in Form von Regierungen, aber auch in Form von sozialen Bewegungen. Der zivile Ungehorsam hat sowieso schon das Potenzial, sehr viel Aufmerksamkeit zu erregen und Debatten anzustoßen. In Verbindung mit künstlerischen Ausdrucksformen wird dieses Potenzial natürlich noch gesteigert.

Glauben Sie, dass es deswegen dann auch besonders wirksam sein kann?

Bogerts: Auf jeden Fall. Allein schon dadurch, dass ich eine ästhetische Ausdrucksform gut finde, kann ich einen Zugang finden. Indem ich Popkultur, Popmusik konsumiere, indem ich bestimmte politische Symbole mit mir herumtrage, mir Poster aufhänge, Kleidung trage et cetera. Dadurch kann ich einen Zugang finden, aber ich kann auch durch die sachlichen Argumente diese Formen unterstützen. Das heißt, es gibt eine doppelte Möglichkeit der Identifikation mit diesen Ausdrucksmitteln. Daher hat es schon besonderes Potenzial.

Das komplette Interview können Sie oben auf dieser Seite hören. Das Gespräch führte Mischa Kreiskott.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Das Gespräch | 03.07.2024 | 16:30 Uhr

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