"Ungleich vereint": Steffen Mau über Ost- und Westdeutschland
Steffen Mau hätte zur Zeit des Mauerfalls 1989 nicht gedacht, dass heute noch so viel über die Unterschiede von Ost- und Westdeutschland diskutiert wird. Wie er den Fall der Mauer erlebt hat, erzählt er im Interview.
Am 9. November 2024 jährt sich der Berliner Mauerfall zum 35. Mal. Nach über drei Jahrzehnten ist die Mauer immer noch spürbar in den Köpfen und im Innenleben der Menschen. Es herrscht Unzufriedenheit - nicht nur weil man sich finanziell benachteiligt fühlt, sondern auch, weil es an Vertrauen in Institutionen mangelt, sagt Steffen Mau, gebürtiger Rostocker, heute Professor für Makrosoziologie an der Berliner Humboldt-Universität. Sein Buch "Ungleich vereint" ist gerade in aller Munde, präsent auf zahlreichen Podien und unter anderem für den NDR Sachbuchpreis nominiert. Scharfsinnig analysiert der Soziologe die Befindlichkeiten in Ost und West, plädiert dafür, Unterschiede zu respektieren und bringt alternative Formen der Demokratie ins Spiel. Über all das spricht Steffen Mau mit Verena Gonsch in NDR Kultur à la carte.
Herr Mau, der 9. November 1989 ist ein Datum, das sich alle Deutschen eingeprägt haben, ob ost- oder westdeutsch. Wo waren Sie am Abend des Mauerfalls?
Steffen Mau: Ich war in Schwerin in einer Kaserne, unweit des Bahnhofs, und habe meinen Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee abgeleistet.
Haben Sie alle gemeinsam ferngesehen?
Mau: Man konnte nicht so einfach Fernsehen gucken. Da ist man kompanieweise angerückt und hat die DDR-Nachrichten geschaut. Das haben wir an dem Tag nicht gemacht, sondern ich hatte Wachdienst. Das heißt, man musste 48 Stunden ununterbrochen in einem Rhythmus operieren, zwei Stunden Wache halten, zwei Stunden Bereitschaftsdienst leisten und zwei Stunden schlafen. Wir hatten aber illegalerweise ein kleines batteriebetriebenes Radio. Jemand hat gehört, dass die Mauer offen ist. Ich glaube, über RIAS Berlin, vielleicht auch über den NDR, ich weiß es nicht mehr ganz genau. Dann gab es natürlich eine wahnsinnige Euphorie, aber wir mussten die ein Stück weit abbremsen, weil wir aus diesem Regime nicht so ohne weiteres raus konnten. Wir haben ganz viel geredet. Ruhe und Schlafenszeiten fanden gar nicht mehr statt, sondern wir waren 48 Stunden wach, weil uns das so elektrisiert hat.
Haben die Offiziere versucht, die Contenance zu bewahren?
Mau: Mit denen haben wir das gar nicht kommuniziert, weil wir uns das nicht getraut haben. Es war insgesamt eine Umbruchzeit. Es ging nicht nur um den Fall der Mauer, sondern auch um die Pulverisierung des alten SED-gestützten Regimes. Schon im Oktober tat sich viel mit dem 40. Jahrestag der DDR und dem Gorbatschow-Besuch in Ost-Berlin, dann gab es den Rücktritt von Erich Honecker. Es war insgesamt viel ins Rutschen gekommen. Wir haben angefangen, offenherziger zu werden und uns gegen die Obrigkeit, jedenfalls dort in diesem militärischen Kontext, zur Wehr zu setzen und mit ihnen Auseinandersetzungen zu führen. Es war wirklich eine sehr bewegte Zeit. Aber das haben wir erst einmal für uns genossen. Es gab natürlich auch viele Fragen, die sich daran anschlossen. Kann die DDR überhaupt mit offenen Grenzen überleben? Sind die nicht eine Voraussetzung dafür, dass nicht alle weglaufen? Die Auswanderungsbewegung in den 1980er-Jahren war enorm. Das hat uns alle berührt. Wir haben ununterbrochen darüber gesprochen, weil man viele Leute kannte, die in den Westen gegangen sind oder im Sommer die DDR über die ungarisch-österreichische Grenze verlassen haben.
Hätten Sie damals gedacht, dass wir 35 Jahre nach dem Mauerfall immer noch mehr über die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten diskutieren?
Mau: Nein, ich bin wahrscheinlich mit der gleichen Naivität in diesen Prozess hineingegangen, wie viele politische Akteure, die gedacht haben in ein oder zwei Generationen ist das eigentlich mehr oder weniger vollendet. Heute gibt es in Ostdeutschland sogar sehr starke antidemokratische Strömungen. Das haben wir damals nicht auf dem Schirm gehabt, sondern man ist davon ausgegangen, dass es eine Übergangszeit gibt, die wir häufig auch als Transformationszeit bezeichnen, wo es Anpassungsreaktionen gibt und bestimmte Modernisierungsprozesse durchgeführt werden. Dann normalisiert und stabilisiert sich das und diese ganzen Fragen von Deindustrialisierung und Veränderungen der Soziokulturen rücken ein Stück weit nach hinten. Dann ähnelt der Osten dem Westen, so dass die Einheit vollzogen ist. Im Nachhinein muss man sagen, war dies eine naive Transformationsvorstellung, weil wir sehen, dass viele Unwuchten geblieben sind. Es haben sich auch viele Enttäuschungen festgesetzt. Ost und West sind in mancherlei Hinsicht doch sehr unterschiedlich und werden es wahrscheinlich auch bleiben.
Das Gespräch führte Verena Gonsch.