Thea Dorn im Porträt © picture alliance/dpa | Sebastian Willnow

Thea Dorn über den schwierigen Prozess der Meinungsbildung

Stand: 30.08.2024 06:00 Uhr

Kann man in Deutschland seine politische Meinung frei äußern? Viele Menschen geben in Umfragen an, dass es besser ist, vorsichtig zu sein. Die Autorin Thea Dorn sieht das anders - sieht aber "eine massive Störung" im Meinungsbildungsprozess, wie sie im Interview sagt.

Unter dem Titel "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen - Gespräche über Demokratie und Meinungsfreiheit" organisiert die Schriftstellervereinigung PEN Berlin im Vorfeld der Landtagswahlen eine Gesprächsreihe in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Insgesamt gibt es 37 Veranstaltungen, bei denen Schriftstellerinnen, Journalisten, Publizistinnen und Künstler auf dem Podium sitzen. So auch am Sonnabend, wenn die Autorin Thea Dorn in Erfurt mit der Musikerin und Autorin Christiane Rösinger und den Journalisten Juan Moreno und Martin Machowecz diskutieren will.

Frau Dorn, was hat Sie bewogen, bei diesen Gesprächen mitzumachen?

Thea Dorn: Zum einen bin ich Gründungsmitglied von PEN Berlin und schätze diesen Verein ungemein - auch als kleines Demokratielabor. Ich bin 1970 in Westdeutschland geboren, habe also nie so richtig erlebt, wie das ist, wenn sich ein politisches Gemeinwesen neu konstituiert. Im ganz Kleinen war das ein bisschen so mit der Abspaltung vom Haupt-PEN. Und PEN Berlin ist extrem aktiv. Als ich mitbekommen habe, dass diese Reihe mit insgesamt 37 Veranstaltungen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg geplant ist, habe ich sofort gesagt: Wenn ihr mich braucht, bin ich dabei. 

Die Aussage "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen" ist ja fast schon überstrapaziert. Viele sagen auch, dass man gar nichts mehr sagen könne - und das wiederum oft sehr lautstark. Wie ist Ihre Einstellung dazu?

Dorn: Der Titel ist bewusst polemisch gewählt von denjenigen, die die Reihe organisiert haben. Ich gehöre nicht zu denen, die behaupten, es gäbe in Deutschland keine Meinungsfreiheit mehr. Das ist Unsinn. Niemand muss in Deutschland Angst haben, dass im Morgengrauen irgendein Sicherheitsdienst an der Tür klingelt, um einen abzuholen. Das ist der Fall, wenn Meinungsfreiheit wirklich nicht mehr existiert.

Womit wir ein Problem in Deutschland haben, ist die Frage, wie gewünscht Debatten und Meinungsvielfalt sind. Das betrifft aber eher die Zivilgesellschaft, den öffentlichen Raum. Das ist nicht ein Problem unserer Verfassung. Deshalb finde ich so eine Reihe großartig, um zu sagen: Lass uns doch mal ins Gespräch kommen. Ein Schwerpunkt der Diskussion soll ja gar nicht nur auf dem Podium stattfinden, sondern mit dem Publikum. Und da bin ich wirklich gespannt, ob da tatsächlich Leute kommen, die die Dinge so sehen, dass ich auch erst einmal schlucken oder durchatmen muss, um nicht sofort auszurasten. Oder ob man letzten Endes doch wieder in seiner Blase bleibt, wo lauter Leute sitzen, die sich betroffen fragen, wie es weitergehen soll mit unserer Gesellschaft, wenn weiter auf Hass und Angst und ähnliche starke Emotionen gesetzt wird, anstatt dass man versucht, unter mündigen Bürgern gemeinsam um eine gute Lösung zu ringen.

1990 waren noch 78 Prozent der Deutschen der Ansicht, man könne hierzulande seine Ansichten frei äußern. 2023 ermittelte das Allensbach-Institut mit 44 Prozent erstmals eine größere Zustimmung dafür, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt sei. Nur 40 Prozent stimmten der Aussage zu, die Meinungsfreiheit sei gegeben. Da Sie gerade von einer Blase gesprochen haben: Ich gehe mal davon aus, dass Leute aus Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis nicht davon sprechen würden, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt sei? 

Dorn: Ich versuche, das zu differenzieren. Man sollte mit dem Satz "die Meinungsfreiheit ist bedroht" sehr, sehr sparsam umgehen. In Russland, in Weißrussland, im Iran - in solchen Ländern gibt es keine Meinungsfreiheit. Was es bei uns gibt, ist, dass man jemandem, der eine andere Meinung vertritt, nicht mehr zuhören will und nicht mehr unterstellt, dass man dabei selbst etwas lernen kann für seine Meinung. Das hat mit einem wachsenden Pegel an Angst in der Gesellschaft und den Abwehrreflexen und dem Hass, die daraus resultieren können, zu tun.  

Meinung kann man für etwas halten, was vom Himmel gefallen ist oder zustande kommt, weil alle in meiner Umgebung etwas denken, was ich dann auch denke. Oder es gibt das anspruchsvollere Bild eines Meinungsbildungsprozesses. Und da haben wir eine massive Störung. Es gibt kein Interesse mehr am Meinungsbildungsprozess. Meinungen vertritt man und kennzeichnet sich damit als Mitglied einer Gruppe. Je nachdem, in welchem politischen Lager man verortet ist, ist man dann selber bei den Guten, wenn man die Dinge genauso sieht, oder bei den Bösen, wenn man das Gegenteil vertritt. Das ist kein Meinungsbildungsprozess mehr - der ist für Demokratie aber wichtig. Ein Meinungsbildungsprozess geht davon aus, dass ich mich mit dem anderen erheblich inhaltlich streiten kann, aber dabei nicht den Eindruck habe, er ist der Feind, den ich vom Feld schlagen muss. In Zeiten der Polarisierung und einer Partei, die sich Hass und Diskriminierung auf die Fahnen geschrieben hat, ist es natürlich wahnsinnig schwierig, zu einem Meinungsbildungsklima zurückzufinden, das nicht so giftig ist wie unser gegenwärtiges.

Wie ist denn Ihre Erwartung: Kommen die Menschen, die mit dem Angebot gemeint sind?

Dorn: Ich lasse mich überraschen. Ich hatte schon öfter Veranstaltungen in Erfurt, die jedes Mal sehr toll waren, auch mit langen Publikumsdiskussionen. Ich habe die Erfurter bislang als sehr diskussionsfreudiges Publikum erlebt und hoffe sehr, dass das dann am Samstagabend auch der Fall sein wird.

Das Gespräch führte Philipp Schmid.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Vormittag | 30.08.2024 | 08:40 Uhr

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