Thea Dorn über Marcel Reich-Ranicki: "Ungemeine Bandbreite an Waffen"
Der Name Marcel Reich-Ranicki ist eng verbunden mit dem "Literarischen Quartett". Seine Nachfolgerin Thea Dorn spricht im Interview bei NDR Kultur über den Kritiker und was Literaturkritik heute noch leisten kann.
Frau Dorn, woran erinnern Sie sich zuerst, wenn Sie an Marcel Reich-Ranicki denken?
Thea Dorn: An eine ungemeine Lebhaftigkeit und eine Bandbreite der Waffen, wenn man das so nennen kann. Er konnte Florettfechten - auf's Feinste, Klügste und Differenzierteste. Und dann konnte er aber auch mit dem Krummsäbel zulangen. Ich hatte es persönlich eher mit den Momenten, wo er Florett gefochten hat, aber breit bekannt geworden ist er natürlich auch mit einer polemischen Lust am Verreißen. Legendär der "Spiegel"-Titel, wo er einen Roman von Günter Grass im wahrsten Sinne des Wortes zerreißt.
Gibt es denn mit Blick auf die Moderation des literarischen Quartetts etwas, das Sie sich besonders von ihm abgeschaut haben oder was Sie mitgenommen haben?
Dorn: Im Wesentlichen nur einen Satz und der lautet: 'Du sollst nicht langweilen'. Das finde ich ein ganz wichtiges Prinzip. Ich würde den ergänzen: 'Unterhalten, aber auf Niveau'. Also nicht einfach eine Kasperle-Bude machen. Das hat Ranicki in seinen guten Momenten auch unbedingt getan. Aus meiner Sicht hatte das alte Quartett in den schwächeren Momenten durchaus Aspekte, wo die Randale oder das zugespitzte Bonmot im Vordergrund standen. Aber sie waren oft auf hohem Niveau unterhaltsam. Das ist natürlich unbedingt ein Vorbild.
Der Reich-Ranicki-Biograf Uwe Wittstock sagt, Marcel Reich-Ranicki wollte mit seiner Kritik vor allem Leserinnen und Leser erreichen und nicht die Schreibenden oder gar die anderen Kritikerinnen und Kritiker. Hat sich das im Laufe der Jahre gewandelt?
Dorn: Das würde ich so nicht beschreiben. Wenn man einen legendären Fall aus der Vergangenheit von Ranicki nimmt: einen Totalverriss eines Romans von Martin Walser, der dann zu einer langen Kontroverse führte. Das nächste Buch von Martin Walser wurde dann von Ranicki hochgelobt. Seine Rezension begann damit, dass das Buch nur so gut sei, weil Ranicki ihn damals so kritisiert habe. Das spricht schon dafür, dass der Kritiker Ranicki auch sehr mit dem Schriftsteller redet. Ranicki hat sich nicht nur als Literatur-Vermittler in Richtung eines Publikums verstanden, sondern er war schon im Ferndialog mit den Schriftstellern - mal im Konstruktiven, manchmal auch im Destruktiven.
Wie sehen Sie denn da heute Ihre Rolle als Gastgeberin des literarischen Quartetts?
Dorn: Es gibt ein schönes Buch von Marcel Reich-Ranicki, was nicht zu seinen bekannten gehört: "Die Anwälte der Literatur". Da erzählt er die deutsche Geschichte der Literaturkritik. Die fängt an mit Lessing - einem Schriftsteller - und endet mit Martin Walser - wieder einem Schriftsteller. Diese Trennung, die sich in den Jahrzehnten der Bundesrepublik sehr etabliert hat: Da sind die Kritiker und da sind die Schriftsteller und das sind zwei feindliche Heerscharen - davon halte ich nichts. Ich glaube sehr wohl, dass Schriftsteller gute Kritiker sind. Die Rolle der Literatur-Anwältin nehme ich sehr gerne an, aber die Rolle des Literaturpapstes - als der Ranicki bekannt wurde - mit der kann ich nichts anfangen.
Sie sind ja selbst Kritikerin und Schriftstellerin. Kritisieren Sie anders, weil Sie die andere Seite kennen?
Dorn: Das weiß ich gar nicht. Ich weiß, wie verletzlich Schriftsteller sind. Ich würde mir und dem Quartett der letzten Jahre zugutehalten, dass wir schon versuchen, mit den Büchern fair zu sein. Nicht aus einer eigenen Positionierungslust zu sagen: Da wird heute mal einer hoch- oder runtergeredet. Sondern ich würde sagen, dass wir sehr um Fairness bemüht sind. Natürlich machen wir uns nichts vor: Der Einfluss von Literaturkritik ist geringer geworden in den letzten Jahrzehnten. So wie überall in den großen Instanzen. Das ist alles viel diffuser geworden. Zu Zeiten von Ranicki gab es keine Kundenrezensionen auf Amazon. Da gab es nicht viel Konkurrenz für die Literaturkritik. Dieser Thron eines Papstes, einer Päpstin, das ist heute nicht mehr zu erfüllen. Die Leute haben nach wie vor eine Sehnsucht nach Orientierung. Aber ich glaube, nicht mehr nach 'Wahrlich, ich sage euch, ihr müsst ...', sondern an eine argumentierende Literaturkritik, die auch Lust auf Literatur macht.