Stand: 09.10.2015 11:49 Uhr

Marcel Reich-Ranicki - der "Literaturpapst"

"Deutschlands meist gelesener, meist gefürchteter, meist beobachteter, darum meist gehasster Literaturkritiker" - so wird Marcel Reich-Ranicki zu Lebzeiten von einem Kritikerkollegen genannt. Die Sendung "Das Literarische Quartett" dürfte an dieser Einschätzung großen Anteil gehabt haben. In Fachkreisen ist Reich-Ranicki jedoch auch vor dieser Sendung längst als "Literaturpapst" bekannt, leitete er doch von 1973 bis 1988 die Redaktion für Literatur und literarisches Leben bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Zuvor war er bei "Die Zeit" als Literaturkritiker tätig gewesen.

Flucht aus Ghetto gelingt in letzter Minute

Reich-Ranicki wird am 2. Juni 1920 im polnischen Włocławek geboren. Er wächst in Berlin auf und macht dort 1938 sein Abitur. Kurz danach verhaften ihn die Nazis und weisen ihn nach Polen aus. In Warschau lernt er seine spätere Frau Teofila Langnas kennen. Beide müssen ins Warschauer Ghetto ziehen, wo Reich-Ranicki als Übersetzer in der Verwaltung arbeitete. Anfang 1943, kurz nachdem Reich-Ranicki an einer Widerstandsaktion der Jüdischen Kampforganisation teilnimmt, sollen seine Frau und er vergast werden - sie können sich aber in letzter Minute verstecken und aus dem Ghetto fliehen. Bis zum Einmarsch der sowjetischen Armee im September 1944 verstecken sich beide bei einem polnischen Retter, den Reich-Ranicki mit Geschichten ausder Weltliteratur unterhält.

Einzelhaft und Publikationsverbot

In den Nachkriegsjahren schlägt Reich-Ranicki einen politischen Kurs ein: Er tritt der Kommunistischen Partei Polens bei, arbeitet ab 1947 für den Auslandsgeheimdienst sowie das polnische Außenministerium und wird schließlich als Konsul ins polnische Generalkonsulat nach London geschickt. Nachdem er jedoch im Herbst 1949 aus politischen Gründen um seine Abberufung bittet und nach Warschau zurückkehrt, entlässt man ihn aus Geheimdienst und Außenministerium. Auch darf er nicht länger in der Kommunistischen Partei bleiben - die Begründung lautet: "ideologische Fremdheit". Dafür kommt er sogar einige Wochen in Einzelhaft. Zurück in Freiheit, lässt Reich-Ranicki die Politik hinter sich und wendet sich wieder der Literatur zu. Er lektoriert in einem Warschauer Verlag deutsche Literatur und veröffentlicht Beiträge in Zeitungen und im Rundfunk, was schließlich dazu führt, dass er ein Publikationsverbot erhält. Als Reich-Ranicki schließlich 1958 zu Studienzwecken nach Deutschland reist, kehrt er nicht nach Polen zurück.

Hamburger Jahre

Ab 1959 lebt er für einige Jahre mit seiner Frau in Hamburg-Niendorf. "Hamburg sagte mir mehr zu, dort war auch - das zeigte sich immer deutlicher - der Schwerpunkt meiner Arbeit. Denn dort war 'Die Welt' und der Norddeutsche Rundfunk", schreibt Reich-Ranicki in seiner Biografie. Er erzählt, dass er drei Jahre lang für die NDR Hörfunkreihe "Literatur in Mitteldeutschland" regelmäßig schrieb. Seine "Hüben und Drüben"-Kolumne in der "Zeit" habe so ein starkes Echo gehabt, dass der NDR sie am Samstagabend nachsendete.

Eklat um Fernsehpreis

Für einen Eklat sorgt Reich-Ranicki bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises am 11. Oktober 2008, als er vor laufenden Kameras die Ehrung für sein Lebenswerk ablehnt. Der "Gott des Donners und des Zorns", wie ihn Elke Heidenreich nennt, begründet seine Entscheidung mit dem seiner Ansicht nach schlechten Niveau des deutschen Fernsehens. Geliebt und auch gefürchtet wird er nicht zuletzt seiner spitzen Zunge und Kommentare wegen. Im März 2013 macht Reich-Ranicki öffentlich, dass er an Krebs erkrankt sei - er stirbt im Alter von 93 Jahren in Frankfurt am Main. Der deutsche Publizist gilt als der einflussreichste Literaturkritiker der Gegenwart.

Dieses Thema im Programm:

23.04.2016 | 01:00 Uhr

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