Thea Dorn © picture alliance / Panama Pictures Foto: Christoph Hardt
Thea Dorn © picture alliance / Panama Pictures Foto: Christoph Hardt
Thea Dorn © picture alliance / Panama Pictures Foto: Christoph Hardt
AUDIO: Gedanken zur Zeit: Stolz - ein heikles Gefühl (10 Min)

Gedanken zur Zeit: Stolz - ein heikles Gefühl

Stand: 27.03.2023 15:29 Uhr

Handelt es sich bei Stolz um eine Haltung oder um Hochmut, um eine Tugend oder um ein Laster? Die Berliner Autorin Thea Dorn widmet sich in ihrem Essay den Facetten des Stolzes.

von Thea Dorn

"Mein Kind, ich bin stolz auf dich!"
"Mehr Stolz, ihr Frauen!"
"Wir sind stolz auf das, was wir geschafft haben!"
"Bin ich stolz, Deutsche zu sein?"

Viermal "stolz". Dreimal heben sich beim Klang des Wortes Brust und Blick, allein beim vierten Mal hebt sich fragend die Stimme. Meine zumindest. Obwohl ich mich Deutschland in kritischer Liebe verbunden fühle. Gleichwohl käme es mir nie in den Sinn, den Satz "Ich bin stolz, Deutsche zu sein" einfach so zu denken oder zu sagen. Grund genug, genauer zu betrachten, was es mit Stolz-Gefühlen insgesamt auf sich hat - und ob speziell wir Deutschen gut beraten sind, uns ihnen auf nationaler Ebene hinzugeben.

Zwischen Eitelkeit und Kleinmütigkeit

Der erste, der sich systematisch Gedanken über den Stolz gemacht hat, war Aristoteles. Für ihn ist der Stolz eine Tugend. Im griechischen Original heißt sie "Megalopsychia", was sich wörtlich als "Seelengröße" oder "Großgesinntheit" übersetzen lässt. "Megalopsychos" - also "großgesinnt" oder "stolz" - nennt Aristoteles denjenigen, der "sich selbst großer Dinge für werthält und", nun kommt die entscheidende Einschränkung, "dies auch wirklich ist. Wer sich großer Dinge für werthält, ohne dies zu sein", ist, laut Aristoteles, "eitel" oder "dumm". Denjenigen, der sich "kleinerer Dinge für werthält, als er es ist", bezeichnet der Philosoph hingegen als "mikropsychos", als "kleinmütig".

Analog zu anderen Tugenden wie der Tapferkeit oder der Großzügigkeit bestimmt Aristoteles den Stolz als die Mitte zwischen zwei extremen Charakterdispositionen, in diesem Fall zwischen der "Eitelkeit" und der "Kleinmütigkeit". In heutigen Begriffen ließe sich sagen: Der Stolze stapelt weder hoch noch tief, hat weder ein übersteigertes Selbstbewusstsein, noch leidet er unter einem Minderwertigkeitskomplex.

Mir leuchtet diese Analyse sehr ein. Allerdings steht und fällt sie mit einer Grundannahme, die alles andere als unumstritten ist: dass ein Mensch sich seine Vorzüglichkeit als eigenes Verdienst anrechnen darf.

Stolz als Todsünde

Dem Christentum war (und ist) dieses elitäre Welt- und Menschenbild ein Graus. Weit davon entfernt, eine Tugend zu sein, gerät der Stolz in den Ruch der Todsünde. Das radikal-christliche Credo in Sachen Verdienste lautet: O Mensch, bilde dir nicht ein, aus eigener Kraft etwas zu vollbringen! Sollte dir je Außergewöhnliches gelingen, dann allein deshalb, weil Gott dir seine Gnade angedeihen lässt! Kein Wunder also, dass im Christentum eine ganz andere Gemütshaltung zur menschlichen Zentraltugend aufsteigt: die Demut.

Abgesehen von ein paar christlichen oder biologistischen Fundamentalisten dürften die meisten keine Probleme haben, das Gefühl des Stolzes zuzulassen, wenn es um eine konkrete Leistung geht, die jemand vollbracht hat. Von den anfangs genannten Beispielen wäre dies: "Wir sind stolz auf das, was wir geschafft haben." Allerdings müssen wir uns klarmachen, dass wir uns damit von der aristotelischen Kernbedeutung des Begriffs entfernen - weil die "Megalopsychia" eben kein Gefühl mit konkretem Objekt, nicht der Stolz auf dieses oder jenes ist, sondern sich zu einem Charakterzug verfestigt hat.

Emanzipatorische Ermunterungen

Diesem antiken Verständnis näher zu sein scheint die eingangs zitierte Aufforderung "Mehr Stolz, ihr Frauen!", die von der großartigen Feministin Hedwig Dohm stammt, welche von 1831 bis 1919 lebte. Ihre Ermunterung zielt darauf ab, dass Frauen sich generell nicht kleiner machen sollen, als sie sind, sich nicht für prinzipiell minderwertig halten im Vergleich zu Männern: eine Absage an die weibliche Neigung zur "Mikropsychia". In einem ähnlichen Sinne ist der "Gay Pride" zu verstehen, der sich in den vergangenen Jahrzehnten in der westlichen Welt etabliert hat.

Gleichzeitig gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen diesen emanzipatorischen Ermunterungen zum Stolz an die Adresse von gesellschaftlich unterdrückten Gruppen und dem antik-elitären Konzept: Zwar erwähnt Aristoteles, dass etwa die Adligen und Reichen von Natur aus stolz seien - macht aber klar, dass er vom Stolz auf ein zufälliges Merkmal, das man qua Geburt besitzt, nicht viel hält. Die Grundlage für Stolz ist und bleibt für ihn eine selbst errungene Vorzüglichkeit. Die Idee, stolz auf die Geschlechtszugehörigkeit oder die sexuelle Orientierung zu sein, wäre Aristoteles nie gekommen.

Übersicht
Eine Reihe von Uhren steht in einem leeren Fabrikgebäude. Eine zeigerlose Uhr ist frontal zu sehen. © Roberto Agagliate / photocase.de Foto: Roberto Agagliate

Gedanken zur Zeit

Radio-Essays für neugierige Hörer: Immer sonntags diskutierten namhafte Autoren unsere Weltbilder. Die Reihe endete am 8. Juli 2023. mehr

Fremde Federn

Wie weit wir uns in unserem heutigen Stolz-Verständnis vom antiken Ansatz entfernt haben, wird ebenfalls deutlich an dem Beispiel, mit dem ich begonnen hatte: "Mein Kind, ich bin stolz auf dich!" Wird dieser Satz nicht nur still gedacht, sondern laut ausgesprochen, soll er dem Kind sagen: "Ich finde es großartig, was du geleistet hast - sei auch du stolz auf dich!" Also auch hier wieder: eine Ermunterung zu größerem Selbstwertgefühl, eine "Erstolzung" - als Gegenteil von Demütigung. Wobei es die Mutter bzw. den Vater selbst mit Stolz erfüllen dürfte, dass ihr bzw. sein Kind es ist, das so Großartiges vollbringt.

Allerdings stellt sich die Frage, inwiefern es überhaupt statthaft ist, auf jemand anderen stolz zu sein bzw. auf etwas, das ein anderer geleistet hat. Ein solcher Übersprungsstolz ist nur angebracht, wenn derjenige, der ihn empfindet, tatsächlich etwas mit der Wohlgeratenheit bzw. der konkreten Leistung der anderen Person zu tun hat. In allen anderen Fällen versucht der Stolze, sein Ego mit Federn zu schmücken, die ihm, nüchtern betrachtet, nicht gebühren.

Vor diesem Hintergrund ist besser zu verstehen, wieso der Nationalstolz in mehrfacher Hinsicht ein heikles Gefühl ist. Man will stolz auf etwas sein, das man zufällig ist - es sei denn, man ist in dieses Land eingewandert und hat sich bewusst dafür entschieden, Deutscher zu werden. In aller Regel schmückt man sich mit fremden Federn, denn wer darf schon von sich behaupten, Anteil an Bachs "Matthäuspassion" oder auch nur am jüngsten Fußballweltmeistertitel zu haben? Und allzu oft soll der Nationalstolz als Gratis-Vitamin-Spritze für ein kränkelndes Selbstwertgefühl herhalten, nach dem Motto: Wenn ich sonst schon nichts habe, auf das ich stolz sein kann, will ich wenigstens stolz darauf sein, Deutscher zu sein.

Stolz als Verpflichtung begreifen

Dennoch meine ich, dass sich einem wohlverstandenen Nationalstolz Produktives abgewinnen lässt. Wie eben gezeigt, verrät der Stolz auf etwas, das meine Person übersteigt, dass ich mich diesem anderen innig verbunden fühle, stiftet somit Zusammengehörigkeits- und Verantwortungsgefühle. Nichts spricht dagegen, stolz darauf zu sein, dass Deutschland endlich zu einer friedlich geeinten, freiheitlich verfassten Nation geworden ist - wenn man diesen Stolz nicht als Lizenz zum Grölen missbraucht, sondern als Verpflichtung begreift, sich dafür zu engagieren, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Land bleibt, das sich für ein gutes, ja vielleicht sogar vorzügliches Land halten darf.

Nötig und richtig ist auch die Aufforderung, ein realistisches nationales Selbstwertgefühl mit Blick auf die Vergangenheit zu entwickeln. Die Verbrechen, die in der Zeit des Nationalsozialismus von Deutschen im Namen des Deutschen begangen wurden, waren und bleiben monströs. Gleichwohl dürfte es keinem Land der Welt guttun, den Blick zurück ausschließlich auf die Verbrechen zu richten - jeglichen Nationalstolz dauerhaft durch Nationalsünde oder Nationalscham ersetzen zu wollen. Die einzige Charakterdisposition, die auf diese Weise entsteht, ist jenes unerquickliche Paradox, das Elfriede Jelinek so treffend "Sündenstolz" genannt hat.

Für uns Deutsche sind Stolz und Scham untrennbar miteinander verbunden. Soviel Komplexität müssen wir aushalten. Alles andere ist kleinmütig. Oder dumm.

Eine Wiederholung der Sendung vom 30.09.2018

 

Weitere Informationen
Regisseur Edward Berger mit seinem Oscar für den Besten Internationalen Film in Los Angeles © Invision via AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ Foto: Jordan Strauss

"Im Westen nichts Neues"- Regisseur Berger über Scham und Schuld

Der Filmregisseur aus Wolfsburg spricht im NDR Interview über die Oscar-Nominierungen für sein Kriegsdrama "Im Westen nichts Neues" und über die Geschichte des Films. mehr

Buchcover: Elfriede Jelinek - Angabe der Person © Rowohlt Verlag

"Angabe der Person": Rauschendes Fest für Elfriede Jelinek-Fans

"Eine Lebensbilanz" - so hat der Rowohlt Verlag Jelineks Text angekündigt. Und tatsächlich: Viel Persönliches taucht hier auf. mehr

 

 

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 25.03.2023 | 13:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Romane

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Bücher 2024: Das waren die interessantesten Neuerscheinungen

Unter anderem gab es Neues von Martina Hefter, Frank Schätzing, Markus Thielemann, Isabel Bogdan oder Lucy Fricke. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Die Schauspielerin Katharina Thalbach sitzt auf einem Sofa. © Screenshot

Katharina Thalbach mit "Ein Wintermärchen" wieder in der Elphi

"Ein Wintermärchen" mit Katharina Thalbach in der Elbphilharmonie ist fast ein Klassiker. Heute ist die erste von neun Aufführungen. mehr