Lutz Seiler: Der Georg-Büchner-Preisträger im Gespräch
Den Georg-Büchner-Preis, die wichtigste literarische Auszeichnung im deutschsprachigen Raum, bekommt in diesem Jahr der Schriftsteller Lutz Seiler. Im Interview spricht er über die Unterschiede beim Schreiben von Romanen und Gedichten.
Herr Seiler, Sie sind gerade in Südschweden. Die Nachricht hat Sie sozusagen zwischen den Dünen erreicht. Wie fühlt sich das an, wenn an so einem Rückzugsort plötzlich am laufenden Band das Telefon klingelt?
Lutz Seiler: Das ist schon sehr besonders. Wir sind jedes Jahr hier zwischen den Dünen und wir wissen, dass es mit dem Telefon schwierig ist. Man muss auf die höchste Düne gehen, um guten Empfang zu haben.
Wie überrascht sind Sie selbst über den Preis?
Seiler: Ich bin überrascht, schätze mich glücklich und empfinde diesen Preis als eine sehr große Ehre und Ausdruck der Wertschätzung für meine Bücher - beziehungsweise für das, was ich mache beim Schreiben.
Sie sind in der DDR aufgewachsen, haben als Zimmermann und Maurer gearbeitet. An welcher Stelle haben Sie gemerkt, dass Sie eigentlich Schriftsteller sind?
Seiler: Ziemlich spät. In meiner Jugend habe ich mich kaum für Literatur interessiert. Es ist dann so passiert, dass ich während meiner Armeezeit als 20-/21-Jähriger angefangen habe zu lesen. Das Ereignis des Lesens war so groß, dass ich sofort angefangen habe mit dem Schreiben. In aller Naivität habe ich lange Gedichte mit Hand auf linierte Blöcke geschrieben. So fing alles an. Man wusste nicht so richtig, woher es kam. Aber entscheidend war, plötzlich verbunden zu sein mit vollkommen anderen Welten. Das war stark und hat das Schreiben ausgelöst.
Welche Welten erleben Sie jetzt beim Schreiben?
Seiler: Das ist lange her. Inzwischen sind es sehr bestimmte Dinge, die mich interessieren: die Herkunft aus einer vom Uranbergbau verwüsteten Gegend in Ostthüringen, aber genauso das Abenteuer der Individuation, diese Prozesse hin zu einer eigenen Stimme am selbstbestimmten Leben. Für die Romane war wahrscheinlich die Vorstellung alternativer Lebensmodelle in sehr speziellen Mikromilieus auf der Insel Hiddensee wichtig und interessant - oder später dann, nach dem Mauerfall in Berlin, die Formen gesellschaftlicher Utopien, die in bestimmten Ausnahmesituationen jenseits der Laufbahnstrukturen, die einem die Gesellschaft so anbietet, gelebt werden konnten.
Man spürt in Ihren Büchern immer noch die Verbundenheit mit dem Handwerkermilieu oder der Denkart von Handwerkern. Welche Ähnlichkeiten stecken für Sie zwischen einer Handwerksarbeit und dem Fertigstellen oder dem Schreiben eines Romans?
Seiler: Wahrscheinlich gibt es da eine gewisse Parallelität der sinnlichen Erfahrungen oder des sinnlichen Ansatzes. Ich habe als Baufacharbeiter und Zimmermann gearbeitet und erlebe die Dinge unmittelbar sinnlich und hantiere mit ihnen. So versuche ich auch, die Sprache unmittelbar sinnlich zu handhaben und die Worte zu überführen in eine sinnliche Sprache. Das ist die Parallelität. Wahrscheinlich kommt die Vorstellung von Sinnlichkeit von dort.
Sie beschreiben sich selbst als jemanden, der vom Ohr her schreibt. Hat das auch etwas damit zu tun?
Seiler: Ja, das Ohr ist eine Art Leitorgan für das eigene Schreiben. Ich muss immer zu sprechen bei der Arbeit. Jeder Satz wird hundert Mal gesprochen, bis ich hören kann, dass er stimmt. Das Ohr ist das Kontrollorgan. Man möchte immer wieder hinaus auf eine bestimmte musikalische Fantasie, auf eine bestimmte rhythmische Struktur, die dann wiederum eine bestimmte Syntax herstellt. Die wiederum ruft ein bestimmtes Vokabular auf und schließt ein anderes konsequent aus. Also ist das eigentlich eine Art musikalischer Ansatz beim Schreiben.
Jetzt haben Sie nach zwei Romanen zuletzt wieder Gedichte geschrieben. "schrift für blinde riesen" heißt der Band, 2021 erschienen. Inwieweit ist die Arbeit an Gedichten anders als an Romanen?
Seiler: Es ist schon sehr anders in der Ausgangssituation. Ich glaube, es gibt da eine Disposition hin zum Gedicht und eine hin zur Prosa. Das hat damit zu tun, dass das Schreiben von Gedichten ganz andere Wahrnehmungszustände und Abläufe braucht - im Grunde eine konzentrierte Form der Abwesenheit, die es einem erlaubt an den üblichen Strukturen und Vorstellungen vorbei auf ein starkes Bild zuzugreifen.
Währenddessen benötigt Prosa sehr viel Anwesenheit und Konzentration. Man möchte immer hören, was andere Menschen sagen, wie sie sprechen. Man möchte sich das notieren. Es gibt eine Poetik der konzentrierten Anwesenheit als Ausgangspunkt. Entweder man ist in einem Leben hin zur Prosa drin oder in einem Leben hin zu Gedichten und das kann man nicht schnell mal wechseln.
Auf der Preisverleihung geht es gerne mal um Georg Büchner selbst, auch in den Dankesreden. Haben Sie schon eine Idee, wo Sie da persönlich ansetzen möchten? Gibt es ein Werk oder einen Aspekt bei Büchner, der Sie besonders interessiert?
Seiler: Was mich an Büchner fasziniert, ist, dass ihn das wissenschaftliche Detail genauso interessiert hat wie das große Thema soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Er hat für die Vorlesungen, der er halten wollte, Präparate angefertigt, hat seine Promotion über die Anatomie von Fischen und Amphibien geschrieben und hat dann selbstgefertigte Präparate einbezogen in seine Lehre. Das ist eine Seite, die mich absolut interessiert. Büchner markiert eine neue Epoche in der Literatur und im Grunde auch in der Medizin. Er ist ein Mitbegründer der modernen Psychosomatik, was mit einzelnen Texten belegt werden kann - wie seinem "Lenz" oder auch der Physiognomie des "Woyzeck".