Eine Gesellschaft im Umbruch: "Stern 111"
Lutz Seiler ist 2020 mit "Stern 111" ein großer Roman gelungen, der auf bedrückende Weise von Aufbruch und Untergang erzählt, von sozialen Utopien und gesellschaftlicher Realität.
"Kruso", der erste Roman von Lutz Seiler, war ein großer Erfolg, ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2014. Er erzählt vom Zusammenbruch der DDR und führt auf die Insel Hiddensee - jene Enklave der Andersdenkenden, die von Freiheit innerhalb des Sozialismus träumten. Auch in seinem neuen, zweiten Roman beginnt Lutz Seiler seine Geschichte im Wendejahr 1989. Wieder steht ein Student im Mittelpunkt, wieder erzählt er von der Möglichkeit eines alternativen Lebens und von der Flucht aus der DDR: "Stern 111".
Er ist einer, der in seinem Leben nicht mehr zuhause ist. Nach der Trennung von H. und einem Studium, das ihm nichts mehr gibt, hat Carl sich vor der Welt regelrecht verkrochen. Nun auch noch das, ein Telegramm der Eltern, bei denen er sich lange nicht gemeldet hat: Sie wollen weg, die DDR verlassen, er soll das Haus in Gera versorgen.
Dann die Übergabe. Rundgang durch alle Zimmer, Besonderheiten des neuen Ofens, die Elektrik und die Sicherungen, die Verabschiedung von allem. Auf dem Schreibtisch lag ein Briefumschlag. Fünfhundert Mark, sagte sein Vater. Hast Du noch Fragen? Leseprobe
Zwei Fluchtgeschichten in einem Buch: "Stern 111"
Carl hat viele Fragen, stellt kaum eine, er steht unter Schock. Ein junger Mann Mitte 20, gescheiterter Student, gelernter Maurer, Traumberuf: Dichter. Wovon die Eltern träumen, verraten sie nicht, nur so viel: Sie wollten schon lange weg.
Lutz Seiler erzählt zwei Fluchtgeschichten: Die der Eltern, die zunächst in Hessen versuchen, Boden unter die Füße zu bekommen und sich dort mit sämtlichen Vorurteilen gegenüber den sogenannten "Ossis" konfrontiert sehen, und ausführlicher die von Carl, der mit dem Shiguli seines Vaters nach Berlin fährt, alle Habseligkeiten im Kofferraum. Er findet Unterschlupf in der Hausbesetzerszene an der Oranienburger Straße, in einer kleinen Wohnung ganz für sich allein.
Die Tür fiel ins Schloss und augenblicklich empfand Carl die wohltuende Fremdheit des Ortes. Das Geräusch seiner Schritte auf den Dielen und ihr klarer Widerhall in ihm selbst. Er konnte es spüren, vom Scheitel bis zur Sohle: die Strömung einer guten, alles besänftigenden Einsamkeit. Leseprobe
Aufbruchsstimmung in Ostberlin
Angeführt wird die A-, die Arbeiterguerilla, wie die Hausbesetzer sich nennen, von Hoffi, dem charismatischen "Hirten", der auch Carl fasziniert mit seinen manchmal wirren Reden über die Emanzipation des Proletariats und das Recht auf Wohnung und Arbeit. Gemeinsam gründen sie die "Assel", eine der ersten Kneipen an der Oranienburger Straße, Carl wird zum Vorarbeiter und später, nach Fertigstellung, zum Kellner.
Auf über 500 Seiten entwirft Lutz Seiler wie schon in "Kruso" ungeheuer dicht das Panorama einer Gesellschaft im Umbruch. Dabei richtet er dieses Mal den Blick auf eine Gemeinschaft in Ost-Berlin, die auf ihre Weise ebenfalls ein Inselleben führt. Einen direkten Verweis gönnt sich der Autor: Auch Kruso und Edgar Bendler finden den Weg in die "Assel". "Stern 111" erzählt außerdem vom Werden eines Dichters, von der Suche nach den richtigen Worten und der perfekten Form.
Als das Gedicht endlich fertig war, an dem Carl fast ein Jahr lang gearbeitet hatte, begannen die wärmeren Tage in Berlin. Er sprach es laut vor sich hin, etwas war anders als sonst. Das Gedicht traf einen Punkt, über den er zuvor nicht Bescheid gewusst hatte. Als wäre es nicht von ihm selbst geschrieben, und das war das Beste daran. Leseprobe
Suche nach Erfüllung des Lebenstraums
Carl ist auf dem Weg zu einem "richtigen Dichter", die A-Guerilla verändert sich, der Kapitalismus hält Einzug, die Eltern wandern nach Los Angeles aus. Finden sie dort, wovon sie so lange geträumt haben? Oder kommen sie zurück? Denn das, was war - die Kindheit, das Heranwachsen - lässt sich nicht ausblenden. Für Carl ist diese Zeit eng verbunden mit dem Kofferradio Stern 111.
Ganz am Ende berichtet sein Vater:
Manchmal trug ich es über der Schulter, ziemlich lässig, und manchmal im Arm. Das Radio war unser einziges Licht. Stern 111. Und du warst dabei, im Kinderwagen. Ich war dabei? Du warst immer dabei. Leseprobe
Lutz Seiler ist mit "Stern 111" wieder ein großer Roman gelungen, der auf bedrückende Weise von Aufbruch und Untergang erzählt, von sozialen Utopien und gesellschaftlicher Realität, von Demütigung und Stolz. Ein faszinierendes Geschichts- und Geschichtenbuch.
Stern 111
- Seitenzahl:
- 528 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Suhrkamp
- Bestellnummer:
- 978-3-518-42925-9
- Preis:
- 24,00 €