Flucht über die Ostsee
Der 1963 in Gera geborene Schriftsteller Lutz Seiler ist schon etliche Wochen vor der Veröffentlichung seines ersten ausgewachsenen Romans mit einem bedeutenden Literaturpreis ausgezeichnet worden. Für "Kruso", den Roman, der jetzt erscheint, wurde ihm der Uwe-Johnson-Preis zuerkannt. Es war eine einstimmige Entscheidung für ein Buch, das tatsächlich wie ein Monolith aus der gegenwärtigen Literaturszene herausragt. Eine Geschichte vom Ende der DDR, ein Text über das Trauern, über eine Männerfreundschaft, ein Buch über Liebe und Zärtlichkeit und über Saisonarbeiter.
Schmutziges Geschirr als Mittel zur Selbsttherapie
Vermutlich ist noch nie in der Literaturgeschichte so über das Abwaschen geschrieben worden. Edgar Bendler ist aus seinem bisherigen Leben geflohen, nachdem seine Geliebte vor seinen Augen von einer Straßenbahn überfahren wurde. Er geht nach Hiddensee und heuert im Gasthaus "Zum Klausner" hoch über dem Meer an der Steilküste als Abwäscher an:
Das Gasthaus an der Klippe ist ein seltsamer Ort, ein Treffpunkt bizarrer Persönlichkeiten, von Fernweh, Freiheitsdurst getriebene Schiffbrüchige des Lebens. Im Mittelpunkt steht Alexander Krusowitsch, genannt Kruso oder Losch, mit dem Ed von Anfang an eine ebenso brachiale wie zärtliche Männerfreundschaft verbindet.
Unerfüllte Sehnsucht am Strand von Hiddensee
Als Kind stand Kruso am Strand von Hiddensee, von wo aus man die dänische Insel Moen sehen kann. Seine Schwester beschwor ihn, dort stehen zu bleiben und auf sie zu warten. Offenbar versuchte sie dann, schwimmend ins ferne Dänemark zu kommen. Der erwachsene, große Mann Kruso steht nun mit seinem Herz und seiner Seele in der Hand noch immer am Ufer und wartet auf sie. Diese Geschichten werden manchmal zart wie das Flattern von Schmetterlingsflügeln, manchmal mit biblischer Wucht aufgeblättert, Schicht um Schicht. Alle, die hier im Klausner als Saisonarbeiter sind, haben solche Lebensgeschichten. Wir befinden uns im Sommer 1989 auf Hiddensee, aus dem Radio hört die Mannschaft des Klausners von den Flüchtlingen über Ungarn. Und es ist großartig, wie Lutz Seiler diese Blende hinbekommt, wie Kruso alle beschwört, der Westen müsse von denen, die die DDR verlassen, etwas über Freiheit lernen. Im Westen sei sie bestimmt nicht, diese Freiheit, die gemeint ist.
Ein Denkmal für die Ertrunkenen
Lutz Seiler hat nach den Schicksalen der Ostseeflüchtlinge, die ohne Papiere oder andere Hinweise auf ihre Identität, um die zurück bleibenden Familien zu schützen, in dänischen Archiven gesucht:
Lutz Seiler setzt mit seinem Text auch denen, die im Meer ertrunken sind auf der Flucht, ein Denkmal - nach einer sehr aufwendigen Spurensuche: "Die Unterlagen sind in Kopenhagen, aber bestattet sind die dort nicht, sondern - wie sich herausstellte - werden sie zurück gebracht ans Meer. Also, die Reste liegen da, weil man den Fall nicht abschließen kann und nicht ausschließen möchte, dass irgendwann einmal nach so vielen Jahren ein Angehöriger es schafft, nachzufragen und dort anzukommen und das Stück Erde vielleicht mit zu nehmen nach Hause." Lutz Seiler hat einen großen Roman geschrieben, den man in einem Leben nicht auslesen kann und vor dem man sich in seltsamer Weise verneigen möchte. Auch wenn er manchmal so anstrengend ist, als ob man selbst das ganze Geschirr abwaschen müsste beim Lesen.
Kruso
- Seitenzahl:
- 484 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Suhrkamp
- Bestellnummer:
- 978-3-518-42447-6
- Preis:
- 22,95 €