Die Schriftsteller Martin Walser (l) und Günter Grass (r) im Jahr 2007 in Berlin. © picture-alliance/ dpa | Soeren Stache
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Die Schriftsteller Martin Walser (l) und Günter Grass (r) im Jahr 2007 in Berlin. © picture-alliance/ dpa | Soeren Stache
AUDIO: Literaturkanon: Loblied auf die alten, weißen Männer (3 Min)

Literaturkanon: Loblied auf die alten, weißen Männer

Stand: 07.08.2023 13:43 Uhr

Mit Martin Walser ist der wohl letzte der über die Literatur hinaus meinungsbildenden Literaten gestorben. Manche lässt das jubeln: Endlich sei Platz für eine viel diversere Sicht auf die Welt! Jürgen Deppe ist da skeptisch.  

von Jürgen Deppe

Die alten, weißen Cis-Männer der deutschen Literatur sind tot. Es lebe... Ja, was denn? Die großen Stänkerer und Einmischer sind abgetreten, ob sie nun Heinrich Böll hießen oder Günter Grass, Marcel Reich-Ranicki oder zuletzt Martin Walser. Sie waren alles Männer, waren weiß, aber nicht immer alt, sondern haben als junge Wilde in einer wichtigen Phase der westdeutschen Bewusstseinsbildung nach Nationalsozialismus und Holocaust erst als Gruppe 47, dann als Einzelkämpfer vehement Position bezogen - gegen ein Verschweigen und falsche Kontinuitäten. Sie intervenierten, sie irritierten, sie provozierten.

Grimmige Gesellschaftskritiker und nölige Nörgler

Sie literarisierten gegen die allmächtige "Bild" und die selbstgefällige Bonner Republik, blechtrommelten in die verlogenen Träume einer Wirtschaftswundergesellschaft, jagten fliehende Pferde durch den saturierten Mittelstand, verrissen sich gegenseitig oder murksten sich - zumindest literarisch - ab.  

Man konnte, nein, man musste sich an den grimmigen Gesellschaftskritikern und nöligen Nörglern reiben. Oft nur kurz, eine Wortmeldung reichte, aber dann - zack - entbrannte sofort eine flächendeckende Diskussion über den angemessenen Umgang mit der Vergangenheit (siehe Walsers "Paulskirchen-Rede") oder das späte Bekenntnis der Beteiligung an deren Gräueln (siehe Grass' "Häutung der Zwiebel"). Das waren oft bundesrepublikanische Selbstverständigungen: Wer sind wir eigentlich, wo kommen wir her und wo wollen wir hin? Darüber wurde heftig debattiert - ausgiebig und vehement im guten, alten Feuilleton. Aber dessen Gewicht nimmt ja auch ständig ab.

Wer hat noch so viel Stimme und Substanz?

Stattdessen werden Debatten heute auf Social Media geführt. Aber worüber? Welche Literatin oder welcher Literat hätte denn - außer vielleicht Juli Zeh - noch so viel Stimme und Substanz, dass sie im Zwitschern der Insta-Posts und BookTok-Clips Gehör fände? Da muss es schon zu einem veritablen Skandal inklusive Shitstorm kommen, sonst geht da nix, finden kluge Interventionen nicht mehr statt. Versuche, so einen Skandal künstlich zu provozieren - wie jüngst der von Benjamin von Stuckrad-Barre mit seinem missglückten "Bild"-Buch - lassen befürchten: Die Zeiten literarisch ausgelöster Debatten sind endgültig vorbei. Es funktioniert nicht mehr - was schade ist!

Die ungefragten, immer zur Unzeit kommenden, aber reflektierten Zwischenrufe von der Seitenlinie fehlen: die Einlassungen, die weitergehen als schnöde Online-Pöbeleien. Das Bürsten gegen den Strich, die gut argumentierte Kritik, das Aufbegehren. Die anregende Aufregung!

Sie werden fehlen!

In diversen Blasen mag es starke Stimmen und eine treue Gefolgschaft geben. Aber wer nimmt außerhalb der Blase davon Notiz? Ab und zu schwappt aus Frankreich noch mal eine kleine Houellebecq-Provokation rüber. C’est tout!

Wenn manche das als längst überfällige Ablösung der alten, weißen Männer in der Meinungsführerschaft feiern und stattdessen einen "neuen Kanon" proklamieren, sehe ich zur Zeit noch nicht, wo die diverseren Stimmen wären, die solch ein Gewicht hätten wie seinerzeit die intellektuellen Cis-Männchen. Vermutlich wird es sie angesichts einer veränderten Öffentlichkeit so auch nie wieder geben und die kritischen Krakeeler werden als Phänomen der westdeutschen Nachkriegszeit in die Geschichte eingehen. Und: Sie werden fehlen!

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 07.08.2023 | 17:05 Uhr

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