"Noch wach?": Das Leid der Frauen steht im Mittelpunkt
Rund um die Veröffentlichung von Benjamin von Stuckrad-Barres "Noch wach?" wird viel über das Verhältnis von Stuckrad-Barre zu Springer-Chef Matthias Döpfner und Ex-"Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt gesprochen. Dabei steht im Mittelpunkt des Romans das Leiden der Frauen unter Machtmissbrauch.
Buchpremiere im Berliner Ensemble: Benjamin von Stuckrad-Barre möchte über Literatur und Kunst sprechen. Aber alle fragen ihn nach der Wirklichkeit - nach Döpfner und Reichelt. "Ich möchte diese Fragen nicht beantworten, weil sich diese Leute alle niemals stellen müssen", sagt Benjamin von Stuckrad-Barre. "Ich werde da sauer. Merken Sie, ich werde da sauer."
Auch wenn er uns etwas anderes glauben machen will: Die Parallelen zum Springer-Verlag sind schon ziemlich deutlich. Aber in dem Buch steckt noch viel mehr. "Lasst euch nicht von Nebel-Raketen täuschen, um wen es eigentlich geht", sagt der Autor. "Es geht nicht um Stucki gegen Dr. Matze. Es geht um massiven Machtmissbrauch."
Die Frauen stehen im Mittelpunkt des Romans
Es fällt schwer, beim fiktiven Vorstandschef eines Boulevardmediums, der sich selbst als künstlerischen Freigeist betrachtet und unbedingt in die USA expandieren will, nicht an Mathias Döpfner zu denken. Trotzdem ist das Buch kein Männerroman. Im Gegenteil: Die Frauen stehen im Fokus. In "Noch wach?" beschreibt Stuckrad-Barre das System #metoo von allen Seiten.
"Noch wach?"
"Scheiß klimaanlage komm und wärm mich"
"Starke vermissung"
"Bin da"
"Körper an körper JETZT"
"Wo du?"
"?"
"?"
"???"
Nachrichten aus "Noch wach?"
Der Roman erzählt die Geschichten von Frauen, die solche oder ähnliche SMS von ihrem Chef bekommen haben, und was das mit ihnen macht. In "Noch wach?" sind das fiktive Gestalten, geschaffen aus vielen.
Wie alles beginnt
Die Frauen erzählen, wie alles anfängt. Wie junge Mitarbeiterinnen in Abhängigkeit geraten. In Stuckrad-Barres Roman sind das die gelungensten Passagen.
"Das ist nicht das erste Mal, dass du denkst: Er ist mein Retter. Du glaubst nicht an Märchen und Barbie-Prinzen-Scheißdreck. Du willst auch auf jeden Fall sehr professionell sein. Grenzen sind wichtig und so. Aber das hier ist nicht so, wie es von außen vielleicht aussieht, dieses Klischee: Deutlich älterer Chef kümmert sich um die junge hübsche Auszubildende: knick-knack, haha. Null. Ihr habt etwas ganz Besonderes." Auszug aus der Lesung im Berliner Ensemble
Er erzählt, warum es so schwer ist, öffentlich darüber zu sprechen.
"EINVERNEHMLICH? Bei dem Machtgefälle, willst du mich verarschen? Für wen von beiden ist es denn leichter, die Sache zu beenden – suck my ass, Einvernehmlichkeit! Klar, viele von uns sind auf diese schmierigen Nachrichten eingegangen, und deshalb ist das ja auch so peinlich, die jetzt jemand anderem zu zeigen." Auszug aus der Lesung im Berliner Ensemble
Frauen schweigen, weil der Druck zu groß ist
Wir kennen diese Frauen. Als Pappaufsteller im Reschke Fernsehen oder als verstellte Stimme im neuen Podcast Boys Club. Denn wenn sie sich öffentlich äußern, wartet da der Shitstorm auf sie, die Demütigung und das Misstrauen. Nicht alles ist justiziabel. Viele Frauen schweigen, weil der Druck zu groß ist. Manche weil sie Verschwiegenheitsvereinbarungen unterschrieben haben.
Das alles hat es mutmaßlich bei Springer gegeben und Stuckrad-Barre war mittendrin. "Mich interessiert der Springer Verlag nicht. Die Bildzeitung interessiert mich nicht", sagt Stuckrad-Barre. "Aber wenn sich Menschen bei einem melden sollen, kannst du mir bitte helfen? Und denen geschieht Unrecht. Dann ist man einfach kein Arschloch." Tatsächlich haben sich viele Frauen aus dem Springer-Verlag bei Stuckrad-Barre gemeldet. Manche tun es bis heute.
Geschichte könnte in vielen Unternehmen spielen
Stuckrad-Barre hatte einen guten Draht zu Döpfner. Hätte der die Vorwürfe nicht überprüfen müssen? Die Missbrauchsgeschichten von Frauen als literarische Vorlage. Jetzt schlägt ausgerechnet ein Mann daraus Profit. Aber: dieser Mann steht auf der Seite der Frauen.
"Wenn Vergleichbares nicht anderswo genauso oder so ähnlich stattfände, wäre es kein Thema für einen Roman", sagt Stuckrad-Barre. "Das könnte genau so auch in der AOK spielen. Spielt es auch. Ich kenn da nur keinen." Es sei oft ein struktureller Narzissmus: "Wo sich die Geschichte im Grunde weitererzählt. Von solchen Häusern, die dann hektisch durchblättern: Das ist ja wie bei mir, aber es war ja ganz anders. Herzlich willkommen! Das Prinzip verstanden, das aber noch nicht begriffen."
Stuckrad-Barre: "Alle gehen da beschädigt raus"
Zum Schluss werde es eigentlich immer schlimmer, sagt Stuckrad-Barre. Man denke: "Aber bald gewinnen die doch, oder? Aber da gewinnt keiner. Alle gehen da beschädigt raus. Das deckt sich ehrlich gesagt mit meiner Welterfahrung."
Wer immer noch nicht versteht, warum Frauen in solchen Beziehungen im Nachteil sind, weshalb diese Fälle selten vor Gericht landen und trotzdem falsch sind, dem sei "Noch wach?" sehr ans Herz gelegt. Und der Rat: einfach kein Arschloch zu sein.