"Noch wach?": Stuckrad-Barres Buch fehlt ein doppelter Boden
Am Mittwoch ist Benjamin von Stuckrad-Barres mit Spannung erwarteter Roman "Noch wach?" erschienen. Unser Kritiker hat ihn über Nacht gelesen und meint: Dem Text fehlt ein doppelter Boden, eine Irritation.
Da steht einer in der Tiefgarage eines Hauses, mit dem er eigentlich gar nichts mehr zu tun haben will, in das es ihn aber doch immer wieder zieht, er hat ja immerhin auch mal dafür gearbeitet, steht also in der Garage dieses - nein, nicht des Springer-Verlagshauses, sondern, so viel Verbrämung muss sein, des riesigen Neubaus dieses TV-Senders, der täglich Schmutz, Schund und Hetze über die Menschen kippt; da steht er und ist wütend und fühlt sich im Recht …
… und ich mag dieses Gefühl überhaupt nicht. Moralisch im Recht zu sein oder auch nur sich zu wähnen macht so dumm, das ist immer das Problem. Leseprobe
Und damit ist dann auch schon das Problem dieses Romans benannt: Die Position der moralischen Unanfechtbarkeit, die er, zweifellos zu Recht, einnimmt, verhindert doch eigentlich jeden Erkenntnisgewinn. Man geht so klug, so grundempört, so unerschüttert wütend aus ihm heraus, wie man in ihn hineingegangen ist. Den Boulevardjournalismus und seine Protagonisten blöd zu finden - darin sind sich die, die diesen Roman zur Hand nehmen, doch eh einig. Es fehlt ein doppelter Boden, eine Irritation.
Showdown dreier Männer: Wie bei Döpfner, Reichelt und Stuckrad-Barre?
Was also passiert hier? Im Laufe eines guten Jahres kommt es allmählich zum Showdown dreier Männer. Es sind der Ich-Erzähler, der Besitzer des Senders und dessen Chefredakteur. Wer sich unter ihnen Benjamin von Stuckrad-Barre selbst, seinen langjährigen Freund, den Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner, und den zum Erzählzeitpunkt 2019 sehr mächtigen "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt vorstellt, macht wohl, aller Literatur- und Figurentheorie zum Trotz, keinen groben Fehler. Der Erzähler jedenfalls, der sich doch eigentlich bei entspannten Poolnächten im Chateau Marmont Hotel am Sunset Boulevard von seinem anstrengenden Leben erholen möchte, erhält Einblick in die Mitteilungen, die der - hier namenlose - Chefredakteur seinen jungen Mitarbeiterinnen zu schicken pflegt.
Grammatik und Interpunktion galten als so was wie gewerkschaftsorganisiertes Schwächlingsgeplärre und wurden folglich vermieden, weil keine Zeit jetzt, niemals Zeit, immer Eile, es geht um Deutschland, mindestens, na, dies war also, was ihm aktuell so durch die oftmals weiche Birne rauschte:
Noch wach?
Scheiß klimaanlage komm und wärm mich
Starke vermissung
Bin da
Körper an körper jetzt
Wo du?
Was für ein Typ. Das ganze Dienstwagengetue, dieser TOP-DOWN-Wahn, diese durchaus babyhafte Impulskontrollosigkeit …
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Ja gut, sicherlich, "was für ein Typ". Wem das interpretatorisch und sprachlich etwas dürftig vorkommt, der erinnert sich vielleicht an den vor über zehn Jahren erschienenen Roman "Johann Holtrop" von Rainald Goetz, in dem im Prinzip das alles, mit leicht anderen Kennziffern, schon zu lesen war; auch dies ein nur aus der Wut geschriebenes und damit literarisch wenig überzeugendes, aber doch immerhin sprachlich originelles Buch.
"Noch wach?": Erzählposition schüttelt uns nicht durch
Stuckrad-Barre aber gelingt überhaupt kein ästhetischer, dramaturgischer, irgendwie künstlerischer Zugriff auf sein Material. Der Erzähler ist fassungslos über den sexgesteuerten Machtmissbrauch im Sender, im Boulevardjournalismus, in Hollywood, überall dort, wo hierarchische Verhältnisse ausgespielt werden. Aber weil es zur Fassungslosigkeit gar keine Alternative gibt, schüttelt uns diese Erzählposition nicht durch, packt uns nicht am Kragen. Wo sie es könnte, vergibt sie ihre Chancen, zum Beispiel wenn es um die rätselhafte Freundschaft des Erzählers mit dem Senderbesitzer geht, eine Freundschaft, die uns mit Platitüden noch verunklart wird.
Wer bitte, mit Ausnahme von Social-Media-Algorithmen, will denn, dass man nur Freunde hat, die genauso denken, leben und sind wie man selbst? Leseprobe
Okay, aber wenn das alles ist, kann man sich natürlich auch mit Donald Trump befreunden. Benjamin von Stuckrad-Barre hat ein viel zu langes Buch geschrieben, in dem viel zu wenig drinsteht, aber immerhin eine der schönsten Zärtlichkeiten der jüngeren Literaturgeschichte zu finden ist:
Wir wussten beide nicht, ob wir uns jetzt umarmen sollten, merkten wir, als wir uns bereits ungelenk ineinander verschränkten und einander mit verklemmter Herzlichkeit auf die Ohren küssten. Menschsein, es ist und bleibt die groteskeste Komödie überhaupt. Leseprobe
… und nicht wenig tragen dazu ihre zentralen Bestandteile bei: Bücher schreiben, Bücher herausgeben, Bücher kritisieren.
Noch wach?
- Seitenzahl:
- 384 Seiten
- Verlag:
- Kiepenheuer & Witsch
- Veröffentlichungsdatum:
- 19. April 2023
- Bestellnummer:
- 978-3-462-00467-0
- Preis:
- 25 €