Sandra Richter, Leiterin des Marbacher Literaturarchivs. © picture alliance/dpa | Fabian Sommer

Nach dem Tod von Martin Walser: Wandel im Literaturkanon?

Stand: 07.08.2023 12:16 Uhr

Was an Literatur im kollektiven Gedächtnis bleibt, darüber entscheidet unter anderem ein sogenannter Kanon, eine Zusammenstellung der Werke, denen eine wesentliche Bedeutung zuerkannt wird. Erleben wir nach dem Tod von Martin Walser, dem letzten großen durch den Zweiten Weltkrieg geprägten Autor, einen Umbruch?

von Katja Weise

Einige bleiben oder kommen immer wieder. Goethes "Faust" ist beispielsweise ein fester Bestandteil des Literaturkanons, ebenso wie Schiller, Kafka oder Rilke. Ob auch das Werk Martin Walsers einmal dazugehören wird? Im vergangenen Jahr hat der Schriftsteller seinen Nachlass dem Literaturarchiv in Marbach übergeben und befindet sich damit in illustrer Gesellschaft. Sandra Richter, die Leiterin des Archivs, ist trotzdem vorsichtig und sagt: "Diese Frage müssen wir, glaube ich, gegenwärtig offenlassen."

Walser ist zumindest ein Kandidat für den Literaturkanon

Zwar habe Walser sich, ähnlich wie Goethe, selbst archiviert, aber, so Sandra Richter weiter: "Er war ein sehr sesshafter Autor am Bodensee in seinem Haus. Sein Haus ist quasi auch ein Egoarchiv. Dort findet sich so vieles: die 75 Tagebücher, ungezählte Korrespondenzen, von nahezu jedem Werk die Vorstufen, Entwürfe, Radiointerviews. Wenn man einen Autor sucht, von dem tatsächlich viel vorhanden ist, dann ist Walser dafür ein großer Kandidat. Natürlich auch ein Werk, das über Dekaden geht. Aber ich wage da keine Prognose."

Nicht allein die literarische Qualität entscheidet

Denn nicht allein die literarische Qualität entscheidet darüber, diesbezüglich gehen die Meinungen zudem oft weit auseinander. Viel wichtiger ist die Bedeutung, die einem Werk, einem Autor durch die Öffentlichkeit zugesprochen wird. Und die wird immer diverser. Sandra Richter spricht von einer Erzeugung verschiedener Kanones in unterschiedlichen Medien: "Auf Twitter ist es oft die digitale, auch die migrantische Literatur, die gut ankommt. Auf TikTok weiß ich es gar nicht, da müsste ich meine Töchter fragen. Vielleicht ist es dort eher das Filmnahe, Futuristische, Thrillerhafte. Dass wir dennoch diese Öffentlichkeiten zusammenführen müssen, dass es wichtig ist, dass sich die verschiedenen Generationen in einem Medium treffen, das wäre meine große Hoffnung. Und dass wir dort diese verschiedenen Kanones auch gegeneinanderhalten können."

"Gerade für Nicht-Spezialisten scheint ein Kanon zentral"

"Tschick" von Wolfgang Herrndorf ist ein Buch, das verschiedene Generationen verbindet und in verschiedenen Kanones auftauchen könnte. Wichtig ist aus Sicht von Sandra Richter jedoch der Brückenschlag, die für alle offene Diskussion: "Wenn in der Öffentlichkeit immer nur dieses oder jenes entdeckt wird, dann bleibt erst einmal nichts. Man muss ja auch den Leserinnen und Lesern die Chance geben, hinterher zu kommen, mitzudiskutieren. Gerade für die, die nicht Spezialisten sind, scheint mir ein Kanon zentral."

Das Literaturarchiv Marbach nennt sie einen "Kanonisierungsverstärker". Richter bemüht sich um Literatur von Frauen, wünscht sich, dass Schriftstellerinnen noch mehr in die Öffentlichkeit treten. Weiterhin sei diese männlich dominiert, obgleich es mit Juli Zeh oder Eva Menasse starke Stimmen gibt.

Wie zu einem gesamtdeutschen Nachkriegskanon finden?

Ein weiteres wichtiges Thema ist die deutsche Teilung. Wie zu einem gesamtdeutschen Nachkriegskanon finden? Vor zwei Jahren hat Christoph Hein dem Literaturarchiv seine Manuskripte, Briefe und Arbeitsmaterialien übergeben. Er ist - wie Walser - ein Chronist der Geschichte, allerdings aus ostdeutscher Perspektive und fast 20 Jahre später geboren. Der Kanon verändert sich, muss sich verändern, mit der Zeit gehen, doch von einem Umbruch will Sandra Richter jetzt nicht sprechen. Angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine gewinne die durch den Zweiten Weltkrieg und die Shoah geprägte Nachkriegsliteratur vielmehr wieder an Aktualität: "Eigentlich sollten wir vielleicht jetzt gerade alle Walser lesen und ihn gerade jetzt noch einmal kanonisieren: in seiner kritischen und auch kontroversen Auseinandersetzung mit diesen großen politischen Themen."

Weitere Informationen
Die Schriftsteller Martin Walser (l) und Günter Grass (r) im Jahr 2007 in Berlin. © picture-alliance/ dpa | Soeren Stache

Literaturkanon: Loblied auf die alten, weißen Männer

Mit Walser ist der wohl letzte der über die Literatur hinaus meinungsbildenden Literaten gestorben. Platz für eine diversere Sicht auf die Welt? Jürgen Deppe ist skeptisch.   mehr

Ein Mann hat einen Hut auf und guckt in die Kamera. © picture alliance/KEYSTONE | GAETAN BALLY

Getriebener, Chronist, streitbarer Geist: Wer war Martin Walser?

Welches Buch sollte man von Walser gelesen haben, welche Doku gesehen oder welches Gespräch gehört? Tipps für Lesens-, Sehens- und Hörenswertes über den Autor. mehr

Martin Walser © picture alliance / dpa Foto:  Felix Kästle

Walser: "Das Umstrittene gehörte zu seinem Erscheinungsbild"

NDR Literaturredakteur Joachim Dicks erläutert, was den am Freitag verstorbenen Martin Walser so bedeutsam gemacht hat. mehr

Cover: Christoph Hein - Unterm Staub der Zeit © Suhrkamp Verlag

Christoph Heins "Unterm Staub der Zeit": Jugend in Zeiten des Mauerbaus

Hein erzählt von einem Jungen, der in der DDR kein Abitur machen darf und darum in ein Schülerheim nach West-Berlin geschickt wird. mehr

Buchcover von "Zwischen Welten" von Juli Zeh und Simon Urban. © Luchterhand Verlag

NDR Buch des Monats: "Zwischen Welten" von Juli Zeh und Simon Urban

Zeh und Urban thematisieren in "Zwischen Welten" die Verrohung der Debattenkultur. Sie zeigen auf, wie unterschiedlich auf gesellschaftliche Fragen geblickt wird. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 07.08.2023 | 16:05 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Romane

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Bücher 2024: Das waren die interessantesten Neuerscheinungen

Unter anderem gab es Neues von Martina Hefter, Frank Schätzing, Markus Thielemann, Isabel Bogdan oder Lucy Fricke. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Eine junge Frau steht neben einem Mann, beide lächeln. © Eva Renz / NDR Foto: Eva Renz / NDR

Warten auf Weihnachten mit Rolf Zuckowski

"In der Weihnachtsbäckerei" gehört zu seinen Klassikern. Rolf Zuckowski singt und spielt Gitarre. mehr