Ein Mann hat einen Hut auf und guckt in die Kamera. © picture alliance/KEYSTONE | GAETAN BALLY

Getriebener, Chronist, streitbarer Geist: Wer war Martin Walser?

Stand: 31.07.2023 11:35 Uhr

Welches Buch sollte man von Martin Walser gelesen haben, welche Dokumentation gesehen oder welches Gespräch gehört? Tipps für Lesens-, Sehens- und Hörenswertes über den Jahrhundert-Autor.

von Severine Naeve

In den Nachrufen am vergangenen Wochenende bekam der Schriftsteller Martin Walser viele Zuschreibungen. Dass er unfassbar produktiv war, jedes Jahr ein Buch geschrieben hat, war überall zu lesen. Dass er eine gewisse Halsstarrigkeit in seinen Positionen hatte, sich in seiner Paulskirchen-Rede sehr unglücklich ausgedrückt hat, blieb kaum irgendwo unerwähnt. Aber dass sein öffentlich ausgetragener Streit mit Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki das Ergebnis einer jahrzehntelangen Fehde war, das wissen schon nicht mehr alle. Und kaum jemand hat wohl alle seiner über 50 Bücher gelesen. Wenn Sie sich auch gefragt haben, wer denn der Mensch Martin Walser war, vielleicht das Gefühl haben, etwas verpasst zu haben, was diesen Jahrhundert-Autor betrifft - wir haben Tipps zusammengetragen:

Der Schriftsteller im Gespräch

Die Aufregung und Hektik in den Redaktionen aller Medien, nachdem sich am Freitag die Nachricht von Martin Walsers Tod verbreitet hat - in Windeseile verfasste Texte, gesprochene Nachrufe, geführte Interviews: Martin Walser hätte das sicher gut verstanden. Denn bevor er zu einem der größten Schriftsteller der deutschen Literaturgeschichte wurde, war er Redakteur beim Radio. In der Sendung Das Gespräch bei NDR Kultur erzählte er 2017, wie er sein Glück kaum habe fassen können, als er damals seinen ersten Job bekam: "In der Unterhaltungsabteilung wurde ich für eine Sendung zuständig gemacht, die hieß 'Klingende Wochenpost'. Da gab es eine Melodie, auf die man Sechszeiler drauf texten musste. Pro Strophe, also sechs Zeilen, bekam man 20 Mark. Das war märchenhaft."

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Schriftsteller Martin Walser © dpa Foto: Patrick Seeger
26 Min

Martin Walser im Gespräch

Der Schriftsteller, zu seinem 90. Geburtstag, befragt von Ruthard Stäblein. 26 Min

Die frühen Anfänge als Reporter

Walser stieg später zum Reporter beim Süddeutschen Rundfunk auf. In der ARD Audiothek findet sich tatsächlich noch eine seiner ersten Reportagen. Er berichtete 40 Minuten lang live von der Eröffnung des Bundesgerichtshofes am 8. Oktober 1950 in Karlsruhe: "Auf der Galerie haben die Vertreter der Bundesregierung und Länder Platz genommen, an ihrer Spitze Dr. Theodor Heuss. Bundesjustizminister Dr. Dehler, der rechts neben dem Bundespräsidenten Platz genommen hatte, hat sich nun erhoben und betritt das Pult."

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Nahaufnahme vom jungen Martin Walser. © picture alliance / Keystone | Röhnert

Martin Walser: Reportage von der Eröffnung des Bundesgerichtshofs

In seinen jungen Jahren arbeitete Martin Walser als Reporter und Autor für den Süddeutschen Rundfunk. Am 8. Oktober 1950 berichtet er live von der Eröffnung des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe. extern

Dokumentation über Martin Walser: "Ein Leben für alle und keinen"

"Ein Leben für alle und keinen" - das ist der Titel eines Films des SWR über Martin Walser aus dem Jahr 2012. Es sind viele alte Aufnahmen zu sehen: Walser als junger Autor, als Familienvater mit seinen Kindern am Bodensee, Ausschnitte aus Interviews aus vielen Jahrzehnten. Man lernt seine Fehde mit Literaturkritiker Reich-Ranicki etwas besser verstehen. Und auch, dass das Buch "Tod eines Kritikers" nicht der Anfang, sondern der Gipfel einer jahrzehntelangen "Beziehung" dieser beiden großen Männer der deutschen Literatur war. Es wird zudem deutlich, wie sehr an dem ohnehin so fleißigen Schreiber Martin Walser auch gezerrt wurde - was treibt ihn an, wie macht er das? Hunderte Male wurde er in Interviews zum Schreiben befragt - seine Antworten über die Jahre immer gleich. Um was sollte es gehen, als nur ums Schreiben?

ARD Mediathek: Walser in der Rubrik "retro"

In der ARD Mediathek lassen sich weitere wahre Perlen aus dem Leben Martin Walsers finden - in der Rubrik "retro" Aufnahmen aus den 1960er- und 1970er-Jahren: Walser bei Preisverleihungen oder in Gesprächsrunden, noch in Schwarzweiß und mit jeder Menge Zigarren- oder Zigarettenqualm im Studio. Man erahnt hier und da schon den Jahrhundert-Schriftsteller mit seinem unverwechselbaren Habitus: gleichzeitig so nahbar und dennoch an Eitelkeit grenzend von seinen Thesen überzeugt.

VIDEO: Martin Walsers Theaterstück "Der schwarze Schwan" (7 Min)

Welchen Walser sollte man lesen?

Und was sollte man lesen, wenn man Martin Walser auch als Schriftsteller noch mal näherkommen möchte? Joachim Dicks aus der NDR Literatur-Redaktion findet: "Die Novelle 'Ein fliehendes Pferd' von 1978. Das ist der größte Erfolg, den er hatte. Ein Millionenpublikum hat das Buch käuflich erworben. Dadurch war er endlich materiell so unabhängig, dass er sich ausschließlich dem Schreiben zuwenden konnte." Es ist ein kurzes Buch, aber wem nicht danach ist, Walser zu lesen: Die Novelle wurde auch verfilmt, im Jahr 1986 vom WDR und 2007 dann fürs Kino. Ulrich Noethen und Katja Riemann sind als Helmut und Sabine zu sehen, ein Paar, dessen leicht schale Alltagsroutine durch eine Urlaubsbegegnung mit einem alten Schulfreund Helmuts aus den Fugen gerät. "Ein fliehendes Pferd" ist auf verschiedenen Streamingportalen online zu finden.

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Martin Walser © picture alliance / dpa Foto:  Felix Kästle

Walser: "Das Umstrittene gehörte zu seinem Erscheinungsbild"

NDR Literaturredakteur Joachim Dicks erläutert, was den am Freitag verstorbenen Martin Walser so bedeutsam gemacht hat. mehr

Eintauchen in das Leben Walsers: Biografie von Jörg Magenau

Wer wirklich tief in das Leben Martin Walsers einsteigen möchte: Der Literaturkritiker Jörg Magenau hat eine über 650 Seiten starke Biografie über Walser geschrieben. Nicht unbedingt leichte Urlaubslektüre, aber ein detailreiches Porträt einer vielschichtigen Persönlichkeit. Magenau erzählte im Interview mit NDR Kultur: "Ich habe ihn immer als sehr großzügigen, sehr offenen, sehr anregenden Gesprächspartner empfunden. Einer, der eine unglaublich gute Erinnerung hatte, ein großer Kopf, ein großes Gedächtnis und ein großes erregbares Herz."

Mit Denis Scheck zu den Schauplätzen seines Lebens und seiner Kindheit

Dieses große erregbare Herz ist unübersehbar in einem der letzten Filme, die mit und über Martin Walser gedreht wurden. Denis Scheck hat Walser zu den Schauplätzen seines Lebens und seiner Kindheit am Bodensee begleitet. Mit einem Wackeldackel auf der Heck-Armatur eines alten Mercedes fahren die beiden durchs Ländle. "Mein Diesseits. Unterwegs mit Martin Walser" ist in der ARD Mediathek zu finden. Wenige Jahre vor seinem Tod wird in diesen berührend-vertraulichen Gesprächen auch eines der schweren Themen in Martin Walsers Leben nicht ausgespart - die Friedenspreisrede in der Paulskirche: "Damals war es eben schlimm. Es war an dem Sonntag schlimm. Diese Wochen danach, die so waren - das hat mich auch verkrampft. Der Bubis hat mir eine Art Verständigung angeboten und ich habe so ziemlich den blödesten Satz gesagt, den ich jemals in meinem Leben gesagt habe, anstatt dass ich gesagt hätte: 'Dankeschön, lieber Herr Bubis'."

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Denis Scheck und Martin Walser stehen Arm in Arm nebeneinander. © IMAGO / Horst Galuschka

Mein Diesseits - Unterwegs mit Martin Walser

Denis Scheck und Martin Walser zu dessen 90. Geburtstag durch die heimatliche Landschaft am Bodensee. Eine Lebensreise und ein umfassender Rückblick auf Werk und Biografie des Schrifstellers. extern

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Nachmittag | 31.07.2023 | 14:40 Uhr

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