Hochstapelei in der Literaturkritik: Wer soll das alles lesen?
Alle Welt verlangt vom Literaturkritiker den vollständigen Überblick - doch kein Ozean ist so tief wie das Meer der ungelesenen Bücher. Zum 1. April macht sich Literaturredakteur Alexander Solloch Gedanken über Hochstapelei in seiner Zunft.
Neulich hat mir ein berühmter Literaturkritiker verraten, er lehne Bücher eigentlich ab und nutze jede freie Sekunde, die ihm sein beschwerlicher Alltag als Ehegatte, Familienvater und Konsument belasse, um hingebungsvoll überhaupt nicht zu lesen. Aufwendig führe er, tja, Buch über sein Leseverhalten. Wenn er am Jahresende feststelle, dass er unterm Strich in den vergangenen zwölf Monaten exakt null Bücher gelesen habe, gönne er sich einen Silvester-Sekt extra. Nein, er möge Bücher nicht, lasse es sich nur nicht anmerken.
Literaturkritiker sollen immerzu lesen
"Ja klar, April, April", werden Sie jetzt sagen, und ich werde vielleicht nicht vehement widersprechen, aber doch immerhin fragen: Na, und wenn es doch so wäre? Von Axel Prahl erwartet ja auch keiner, dass er in seiner Freizeit noch Verbrecher fängt. Und die Schaffnerin Frau Akpinar, die heute meine Fahrkarte abgeknipst hat, kommt abends bestimmt nicht nach Hause mit den Worten: "Hier noch jemand zugestiegen?" Aber Literaturleute sollen immerzu lesen.
Hochstapelei: Drastischere Folgen in der Medizin
Interessant, dass vor allem in der Medizin immer wieder Hochstapler auffliegen, was aber auch gut ist: Ein unsachgemäßer Eingriff am Blinddarm hat doch gravierendere Auswirkungen als eine verpatzte Rezension. Seltsamerweise werden diese Betrüger oft aber gar nicht aufgrund von Fehlern am OP-Tisch erwischt, sondern weil dann doch irgendwann irgendwem, manchmal erst nach Jahrzehnten, Ungereimtheiten am Lebenslauf oder irgendwelchen Diplomen auffallen. In Rees am Niederrhein konnte vor Jahren dank gefälschter Urkunden ein Ex-Junkie und verurteilter Rauschgiftschmuggler zum Leiter einer Drogenklinik werden. Und da soll der berühmte Literaturkritiker kein Bücherverächter sein?
"Krieg und Frieden": Die verbrämte Lücke
Dabei ermöglicht, nein, erzwingt, kaum ein anderer Beruf Hochstapelei so sehr wie dieser: Alle Welt verlangt vom Literaturkritiker vollständigen Überblick über sämtliche Epochen, Figuren, Autorinnen und die, sagen wir, tausend wichtigsten Werke der Weltliteratur. Kein Ozean ist aber so tief wie das Meer der ungelesenen Bücher! Wie sehr verbrämen wir diese Lücke, wie offen gehen wir mit ihr um? Offenheit gibt’s eigentlich nur zwischen den Zeilen, wenn man zum Beispiel so beiläufig dahin sagt, man lese jetzt nochmal "Krieg und Frieden". Das ist der geläufige Code für: "Ich lese erstmals 'Krieg und Frieden', darf das aber nicht zugeben, weil das nicht zu meiner Selbststilisierung als Bücherfreak passt."
Oscar Wilde: "Lese nie ein Buch, das ich rezensieren soll"
Der letzte überführte Hochstapler im Bereich der Literaturkritik war Oscar Wilde - überführt aber auch nur wegen seines Geständnisses: "Ich lese nie ein Buch, das ich rezensieren soll; es würde mich in meinem Urteil viel zu sehr beeinflussen." So stimmig das ist, folgt die Literaturkritik inzwischen ganz anderen rhetorischen Mustern: Keine Bloggerin, kein Bücherpodcast-Host, kein Kritiker, der nicht von regelmäßig lesend durchwachten Nächten schwärmt; ein Leben mit so einer lesefeindlichen Abscheulichkeit wie Schlaf ist da überhaupt nicht mehr vorstellbar! Neulich hat sich in der schönen Rostocker Zeitschrift "Lesart" eine überaus geschätzte Kritikerin über Kolleginnen und Kollegen mokiert, die die Sexszenen in Arno Geigers neuem Buch abfällig besprochen hatten: "Aber das", schloss sie resigniert, "waren wohl die Rezensentinnen und Rezensenten, die ihr ganzes Leben nur mit Büchern verbringen."
"Connemara" von Nicolas Mathieu: Buchtipp für schlaflose Nächte
Mir hat zuletzt "Connemara" von Nicolas Mathieu den Schlaf geraubt, ein Roman, der, neben ganz viel anderem, auch von der Hochstapelei im Consulting-Business erzählt. Da steht dann: "Ein Consultant ist einer, der dir auf die Frage, wie spät es ist, deine Armbanduhr abnimmt und sich damit aus dem Staub macht." Großartig, oder? Nicolas Mathieu sei Dank, der Literatur sei Dank, dem Lesen, dem niemals enden sollenden Lesen, unendlicher Dank!