Bildband über Leben und Werk von Gerhard Richter
Gerhard Richter ist der Star der zeitgenössischen Malerei. Einen derart facettenreichen Künstler in einem Bildband vorzustellen, ist nicht leicht. Eine Neuauflage des Schirmer/Mosel Verlags zeigt das.
Der großmustrig rot-weiß geblümte Morgenmantel knallt den Betrachtern geradezu ins Auge. So fällt fast nicht auf, dass das junge Mädchen darunter ein rosafarbenes Hemd trägt. Sie hat den Kopf in einer abrupten Bewegung weggedreht, schaut nach hinten auf eine graue Fläche (vielleicht auf eine monochrome Farbtafel ihres Vaters?) - und präsentiert damit unbewusst ihr blondes, am Hinterkopf zusammengestecktes Haar. Mehr noch: sie versteckt damit ihr Gesicht. Das Porträt von "Betty", der Tochter des Malers, ist genau genommen keines.
"Betty erscheint als eine Figur, die sich im Medium des Bildes zeigt als jemand, der sich nicht zeigt", so drückt es Armin Zweite aus, Kunsthistoriker, Freund und früher Förderer Gerhard Richters.
Armin Zweite beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Richter
Der 480 Seiten starke Bildband aus dem Verlag Schirmer/Mosel verrät die jahrzehntelange Beschäftigung Zweites mit Gerhard Richters Kunst. Um es gleich vorweg zu sagen: Mit seinem umfangreichen Textteil voller kluger Werkbeschreibungen und Einsichten in Richters Arbeitsweise, dazu den rund 250 herausragend gedruckten Farbtafeln ist das Buch ein Prachtstück, wie es wohl kaum etwas Vergleichbares gibt über Richters "irritierend vielfältiges" Werk - aus dem das Porträt von "Betty" besonders herausragt, gleichsam als "Inbegriff von Richters gesamtem Oeuvre".
Mehr als dreieinhalb Textspalten lang schreibt Armin Zweite allein über dieses Bild. Und nimmt sich insgesamt den Platz, um Richters frühe Jahre als Wandmaler in der DDR zu skizzieren, seine Orientierungsversuche nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik, den Flirt mit Fluxus und Pop Art bis zu Richters künstlerischer Entdeckung schlechthin: der Idee, Fotografien abzumalen, die Ränder der Figuren zu verwischen und damit Unschärfe zu erzeugen.
"Wenn ich eine Fotografie abmale, ist das bewusste Denken ausgeschaltet. Ich weiß nicht, was ich tue", hat der Künstler in den 60er-Jahren notiert. Aus dieser Zeit stammt auch ein Zitat, das dem Bildband seinen Untertitel gab und Richters Arbeitsweise auf den Punkt bringt: "Das Denken ist beim Malen das Malen." Der Verstand ist ausgeschaltet, Pinsel und Rakel regieren, ja die Kunst schafft sich nahezu selbst. "Ich möchte am Ende ein Bild erhalten, das ich gar nicht geplant hatte. Ich möchte ja gern etwas Interessanteres erhalten als das, was ich mir ausdenken kann."
Gerhard Richter: Übermalungen als Stilmittel
Richter malt - und übermalt. Versteckt gegenständliche Motive hinter zahlreichen Übermalungsschichten oder verwischt sie in einem wilden Farbnebel. Mal überdeckt er damit ein traditionelles Motiv wie die "Verkündigung nach Tizian", bei der nur noch rote, weiße und graue Wischspuren andeuten, wo der Erzengel Gabriel und wo die Jungfrau Maria ursprünglich im Bild zu sehen waren.
Mal deckt er grauenvoll Unzeigbares zu, wie in dem Bilderzyklus "Birkenau". Hier hatte Richter zunächst Fotografien aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau abgemalt und sie anschließend mehrfach mit schwarzen, braunen, grauen, roten und grünen Farbschichten übermalt, überwischt, überzogen. Die vier abstrakten Bilder, die am Ende dieser Prozedur entstanden sind, strömen eine verstörende Aura von Brutalität und Grausamkeit aus, obwohl absolut nichts Konkretes zu erkennen ist.
Kleines Buch aus Taschen Verlag gibt schnellen Überblick
Deutlich bescheidener, in kleinerem Maßstab und doch zur Einführung sehr brauchbar kommt Klaus Honnefs schmaler Band "Richter" aus dem Taschen Verlag daher: 96 Seiten können nur einen kleinen Überblick geben. Und doch sind sie repräsentativ alle enthalten: "Betty" und "Birkenau", Landschaften und Farbtafeln, das bahnbrechende Bild "Ema (Akt auf einer Treppe)" wie auch "Wolken" und verschiedene "Seestücke". Ein echtes Schnäppchen, Gerhard Richter für die Jackentasche. Deutlich mehr Gewicht, auf der Waage wie in Gedanken, bringt dagegen Armin Zweites Band ins Buchregal.
Ob man aber den Interpreten jedes Wort über die Kunst glauben sollte? Fraglich, findet Gerhard Richter: "Über Malerei zu reden ist ja nicht nur sehr schwierig, sondern vielleicht sogar sinnlos. Da gehört vielleicht auch diese stereotype Frage dazu: 'Was haben Sie sich dabei gedacht?'. Man kann sich nichts dabei denken, denn Malen ist ja eine andere Form des Denkens."
Gerhard Richter: Das Denken ist beim Malen das Malen
- Seitenzahl:
- 480 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- 419 Abb. in Farbe. Format: 24 x 36,5 cm, gebunden
- Verlag:
- Schirmer / Mosel
- Veröffentlichungsdatum:
- 12.2019 / Neuauflage
- Bestellnummer:
- 978-3829607582
- Preis:
- 128,00 €