Eine Person hält ein Buch in die Kamera © NDR/Hondl
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AUDIO: Jahresrückblick aufs Literaturjahr 2022 (5 Min)

Von Blutbuch bis Bratwurstbude: Das war das Literaturjahr 2022

Stand: 30.12.2022 12:07 Uhr

Der PEN entzweit sich, die Papierpreise steigen - trotzdem gab es im Literaturjahr 2022 viele gute Bücher und tolle Autor*innen zu entdecken. Ein Rückblick.

von Alexander Solloch

Die Literatur produziert im Laufe eines Jahres unzählige magische Bilder. Das Bild des Jahres aber ist unbestreitbar dieses: Ein junger Mensch, der sich nicht als Mann bezeichnen lassen will und auch nicht als Frau, steht auf einer Bühne, tief bewegt, gerührt, überglücklich, alles auf einmal.

Soeben ist Kim de l'Horizon im Frankfurter Römer fürs "Blutbuch" mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden - da greift Kim plötzlich zum Rasierapparat. "Dieser Preis ist nicht nur für mich", sagt Kim und fährt sich damit durch die dunklen Wuschelhaare.

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Viele Bücher in Regalen in einer Buchhandlung, eine junge Frau steht vor einem der Borde und zieht Bücher heraus © Rolf Vennenbernd/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ Foto: Rolf Vennenbernd

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Kim de l'Horizon über "Blutbuch": "Ich dachte selbst nicht, dass ich gewinne"

Eine kleine, sehr effektvolle Solidaritätsbekundung für alle, die wegen ihres Körpers Gewalt und Diskriminierung erfahren, etwa die Frauen in Iran. Tags darauf erklärt Kim de l’Horizon im Gespräch mit NDR Kultur, sich diese Aktion nicht lange überlegt zu haben: "Ich dachte selbst wirklich nicht, dass ich gewinne. Für den Fall der Fälle wollte ich einfach vorbereitet sein, dieses Zeichen zu setzen. Denn eine solche Aufmerksamkeit ist politisch und muss politisch genutzt werden."

Zumal dieses Zeichen gut zum "Blutbuch" passt, Kim de l’Horizons fulminantem, hartem und zugleich sehr poetischem Versuch, sich herauszuschreiben aus Geschlechterzwängen. Dieser Text ist so variantenreich wie die deutschsprachige Literatur insgesamt, die rein inhaltlich aufs Prachtvollste gedeiht: Romane wie "Dschinns" von Fatma Aydemir, "Löwenherz" von Monika Helfer, "Prana Extrem" von Joshua Groß, "Zur See" von Dörte Hansen und - besonders überraschend, besonders herausragend - "Die Woche" von Heike Geißler stehen beispielhaft für ein starkes Literaturjahr 2022.

Steigende Energiepreise belasten Buchbranche

Aber es war eben auch ein Jahr der Krise, einer Krise, die zum einen den Blick für die Vielfalt ukrainischer Literatur geweitet, zum anderen aber die Herstellung und den Vertrieb von Büchern massiv verkompliziert hat. Die steigenden Papier- und Energiepreise haben die Bücher immer teurer und die Kundschaft immer zurückhaltender gemacht, berichtet etwa Bernd Rachuth vom Boyens-Buchverlag in Heide: "Die Sparmaßnahmen in den Haushalten greifen und gehen bis weit in den Mittelstand hinein, also auch in die klassische Kundschaft von Buchhandlungen. Wir stellen fest, dass wir seit Mai eine Umsatzeinbuße von etwa zehn Prozent haben."

Literaturnobelpreis für Annie Ernaux: Kann man Werk und Autorin trennen?

Wie das Geld einen Menschen festlegt auf die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht und wie unerhört mühsam es ist, daraus auszubrechen - zumal als Frau -, davon erzählt die französische Schriftstellerin Annie Ernaux seit Jahrzehnten. Von der Entscheidung der Schwedischen Akademie, ihr den Literaturnobelpreis 2022 zuzuerkennen, waren die Feuilletons zunächst einhellig begeistert - ehe auch Kritik an ihr aufkam: Sei sie nicht vor allem eine politische Aktivistin, eine israelfeindliche obendrein?

Die 82-jährige Ernaux entgegnete, offene Briefe, auch Boykottaufrufe, zu unterschreiben, sei doch kein Verbrechen: "Ich bin gegen alles, was mir als fundamentale Ungerechtigkeit erscheint. Ich differenziere zwischen der Regierung Netanjahu von damals und Israel als ganzem. Man begegnet mir – einer Frau, die den Nobelpreis gewinnt – mit Argwohn. Dass ich als Frau über eine benachteiligte Schicht schreibe, die in der französischen Literatur nicht unbedingt behandelt wird, hat mir in der konservativen Presse zum Nachteil gereicht."

PEN: Rücktritte und Neugründungen

Wie sehr lassen sich Werk und Autorin voneinander trennen? Die Einzelgängerin Annie Ernaux lieferte neuen Stoff für diesen ewigen Streit. Unterdessen investierten die im PEN Deutschland vereinigten Schriftstellerinnen und Schriftsteller ihr Streitpotenzial in eine veritable Spaltung: "Ich möchte nicht Präsident dieser Bratwurstbude sein! Ich trete zurück! Und ich trete hiermit aus diesem Verein aus!" erklärte Deniz Yücel im Mai; aber weil er wahrscheinlich tatsächlich den PEN so sehr liebt, dass er findet, es sollte zwei davon geben, gründete er gleich nach seinem Rücktritt den PEN Berlin.

Und was macht Hoffnung? In Frankfurt gab es im Oktober - erstmals seit Beginn der Pandemie - wieder eine richtige Buchmesse ohne Beschränkungen. Im Frühjahr noch hatte die Leipziger Buchmesse zum dritten Mal hintereinander ausfallen müssen. 2023 unternimmt sie einen neuen Versuch, einen Monat später als sonst, Ende April, wenn alles so schön blüht.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 27.12.2022 | 07:20 Uhr

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