Autor Volker Kitz im Portrait © Joachim Gern Foto: Joachim Gern
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AUDIO: "Alte Eltern" - Volker Kitz über die plötzliche Endlichkeit (55 Min)

"Alte Eltern": Kitz über Schreiben als Beziehungsarbeit zu Lebzeiten

Stand: 19.08.2024 06:00 Uhr

Über seine Eltern, seinen Vater, über Leben, Demenz, Tod, Empathie und die großen Fragen einer ganzen Generation spricht Volker Kitz mit Martina Kothe in NDR Kultur à la carte. Sein Text sei aber kein Ratgeber.

von Martina Kothe

Was bedeutet es, wenn Eltern alt werden? Wenn sich Krankheiten ankündigen, wenn sich Lebenssituationen verändern, wenn alles aus dem Lot gerät und sich plötzlich die familiäre Verantwortung verschiebt? Der Publizist, Bestsellerautor Volker Kitz begleitet seinen Vater durch Hoffnung und Hilflosigkeit bis zum Abschied. "Alte Eltern. Über das Kümmern und die Zeit, die uns bleibt" heißt der literarische Essay, den Volker Kitz geschrieben hat.

Es geht um den Abschied von Ihrem Vater, der an Demenz erkrankte. Sie haben, wie Sie schreiben, während dieses Prozesses der Erkrankung und des Umgangs damit, den Entschluss gefasst, gleich darüber zu schreiben. Nicht zu warten, bis diese Phase in der Vergangenheit liegt. Was war der allererste Moment, in dem Sie dachten, ich kann das nur bewältigen, wenn ich darüber schreibe?

Volker Kitz: Es ist sehr interessant. Das ist mein bisher persönlichstes Buch. Es ist ein literarischer Essay geworden. Ich muss dazu sagen, meine Mutter ist vor 20 Jahren schon bei einem Autounfall gestorben. Das ist etwas, wo ich jetzt 20 Jahre später merke, dass ich das langsam anfange zu verarbeiten. Bei meinem Vater war es anders.

Da habe ich den Entschluss gefasst, dass ich das jetzt verarbeiten will, während es geschieht. Ich schreibe das quasi live mit, weil ich mir überlegt habe, was uns beiden helfen, was ihm helfen und was mir helfen kann. Ich dachte, es ist auch für ihn gut, wenn ich die Erkenntnisse über ihn, die ich durch das Schreiben gewinne, noch einsetzen kann. Das ist besser, als wenn ich mich nach seinem Tod mit der Erinnerung an ihn beschäftige und mit Übergepäck an seinem Grab stehe. Das Schreiben war eine Beziehungsarbeit unter Lebenden.

Sie haben in der Vergangenheit Bücher geschrieben, die anderen eine Hilfestellung geben sollen. Beispielsweise auch darüber, welche Gesetze man als Bürgerin und Bürger dieses Landes kennen sollte. Würden Sie sagen, dass das ein Wunsch ist bei diesem Buch, dass es vielleicht anderen hilft? So wie Ihnen auch Bücher, die Sie zitieren, in diesem Prozess geholfen haben?

Kitz: Letztlich hilft jeder gute Text, um zu leben - aus unterschiedlichen Gründen. Es kann ein klarer Ratgeber sein, indem man Tipps hat. Das ist mein Buch nicht. Es ist eine Erzählung, in der ich Gedanken reflektiere. Was mir immer sehr hilft, ist die Erkenntnis, dass man nicht alleine ist.

Meinem Vater und mir sind Dinge passiert, wo man denkt, das gibt es doch gar nicht, das passiert wirklich nur uns. Dann habe ich ein bisschen recherchiert und festgestellt, so außergewöhnlich, dass auch alles scheint, es passiert vielen Leuten jeden Tag. Einfach eine andere Geschichte zu lesen und zu merken, man ist nicht alleine, das ist zumindest für mich immer eine sehr große Hilfe im Leben.

Sie sind Jahrgang 1975. Durch die Demenz und das Kümmern um ein Elternteil kommt man in eine Welt, die neben der anderen existiert, und entdeckt die erst.

Kitz: Ja, und es ist erstaunlich, wie plötzlich das kommt, wie so vieles im Leben, was man verdrängt. Ich bin auf dem Dorf mit meinem Bruder, meinem Vater und meiner Mutter aufgewachsen. Ich habe versucht zu überlegen, wie das früher mit der Demenz war. Ich konnte mich nicht erinnern, dass das Wort früher eine große Rolle gespielt hat. Dann dachte ich, sie war aber allgegenwärtig. Das waren die Familienhäuser, in denen saßen Großelternteile auf einer Eckbank, und die saßen immer da. Manchmal haben die etwas Unverständliches gesagt, dann meinte jemand: 'Die Oma ist verkalkt.' Das war's: verkalkt. In diesen Mehrgenerationenhäusern hat sich immer jemand gekümmert. Das war meist eine Frau, die dafür gesorgt hat, dass das scheinbar umstandslos blieb.

Diese Mehrgenerationenhäuser stehen noch in unserem Dorf, und die stehen auch sonst noch da. Sie sind aber heute nicht mehr von mehreren Generationen bewohnt. Die Kinder sind auch dort alle ausgezogen, manche weit weg. Ich bin nach Berlin gezogen, habe sieben Autostunden von meinem Vater entfernt gewohnt, der nach dem Tod meiner Mutter alleine als Witwer dieses Haus bewohnt hat. Ich habe keine Kinder.

Mein Vater hat mal zu mir gesagt - weil er das von früher so gewohnt war - "das ist doch ganz normal, dass Kinder sich um Eltern kümmern". Ich habe ihn gefragt, wer sich mal um mich kümmern soll? Dann hat er mich ganz staunend und fragend angeschaut. Ich glaube, dass wir uns heute tatsächlich fragen müssen, wie das in der modernen Gesellschaft und auch in Zukunft weitergeht. Es ist nicht mehr so, dass im Mehrgenerationenhaushalt jemand auf der Eckbank sitzt und ein anderer sich um den- oder diejenige kümmert.

Das Gespräch führte Martina Kothe.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur à la carte | 19.08.2024 | 13:00 Uhr

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