Judith Kuckart: Über Tanz und Theater zum Schreiben gekommen
Schon früh wollte Judith Kuckart Tänzerin werden und hat sich Pina Bausch bei einem Vortanzen vorgestellt - allerdings ohne Erfolg, weil sie zu jung war. Darüber schreibt sie unter anderem in ihrem Buch "Die Welt zwischen den Nachrichten".
Sie ist Tänzerin, Choreografin, Regisseurin, Schriftstellerin: Judith Kuckart. Seit 1990 veröffentlicht sie Romane, wurde dafür mit etlichen Preisen geehrt. In dem Buch, das jetzt erschienen ist, versucht sie "mit verschiedenen Brennweiten, mit verschiedenen Temperaturen und Farben" die Ereignisse ihres Lebens zu erfassen. "Die Welt zwischen den Nachrichten", so der Titel, ist ein autofiktionaler Text aus Erinnerungen an Kindheit, Jugend und zaghaften Annäherungen an die Gegenwart. Immer sind es markante historische und persönliche Eckpunkte, an denen Judith Kuckart das Zeitgeschehen einfängt: 17. Juni, Tag der Deutschen Einheit, der Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967, der Mauerfall am 9. November 1989, ihre Begegnung mit der Tänzerin Pina Bausch bis hin zum Tag an dem Judith Kuckart über den Titel für diesen neuen Roman nachdenkt. Mit Annemarie Stoltenberg reflektiert sie in NDR Kultur à la carte ihr Arbeiten und Schreiben in Vergangenheit und Gegenwart.
Bei der Lektüre war ich ganz schnell gefesselt von dem, was Sie erzählen, weil es eigene Erinnerungen auslöst. Zum Beispiel an der einen Stelle, wo es um das Tagebuch geht. Haben Sie Tagebuch geschrieben, auf das Sie jetzt zurückgreifen können, um dieses Buch zu schreiben?
Judith Kuckart: Ich schreibe seit ziemlich langer Zeit Tagebuch, aber das ist so spärlich. Da gibt es alle fünf Tage mal einen Satz wie: 'Wege sehen, sah gut aus, hat geregnet.' Das Tagebuch, was ich jetzt habe, darin schreibe ich seit ungefähr 15 Jahren. Das ist dafür da, um irgendwann mal, wenn mein Mann und ich im Altersheim sind, vorzulesen, zu gucken, was an den jeweiligen Tagen passiert ist, um in einen Dialog mit unseren Erinnerungen gehen zu können. Ich habe das Tagebuch überhaupt nicht für das Buch "Welt zwischen den Nachrichten" benutzt.
Wann beginnt Ihre Welt zwischen den Nachrichten? Wann steigen Sie ein?
Kuckart: Eigentlich kurz nach meiner Geburt. Nicht, dass ich da hätte mitreden können. Aber das sind Erinnerungen, die andere mir mitgeteilt haben. Zum Beispiel, dass meine Mutter mich bei brüllender Hitze im Juni 1959 aus dem Krankenhaus gebracht und unter einen Apfelbaum in den Schatten gelegt hat. Da wusste noch keiner und keine von uns, dass ich das einzige Kind bleibe. Ich glaube, an den Apfelbaum kann ich mich erinnern.
Etwas in Ihnen erinnert sich an einen Apfelbaum, essen Sie gerne Äpfel?
Kuckart: Nein, ich gucke gerne Bäume von unten an. Weil die Bäuche von den Blättern anders sind als die Oberflächen, also die Rücken von den Blättern. Ich glaube, das ist eine Kinderwagen-im-Gras-liegen-strampel-Erfahrung.
Eine der Frauen, die Ihr Leben geprägt haben, eine prominente Frauenfigur aus Ihrem Roman, ist Pina Bausch. Wie alt waren Sie, als Sie zu Pina Bausch nach Wuppertal gefahren sind, um dort vorstellig zu werden?
Kuckart: Ich war noch keine 16 und bin zu einem Vortanzen gegangen. Dort habe ich mich am Pförtner vorbeigeschlichen, habe meine Zahnspange in die Seifendose getan, das Trikot vom Kinderballett angezogen und bin zum Vortanzen gegangen. Da habe ich gesehen, dass die alle viel älter und viel cooler sind als ich. Ich habe mich an die Stange gestellt, und Pina Bausch kam rein. Es waren unglaublich viele Leute da. Sie hat geguckt und da hat sie mich gesehen, ist zu mir gekommen und hat gesagt: 'Wie heißt du denn?' Ich habe meinen Namen gesagt, dann wollte sie den Nachnamen wissen. Ich habe ihr den Nachnamen von meinem Zahnarzt gesagt, weil ich mich undercover dahin gestellt hatte. Sie hat gesagt: 'Wie alt bist du denn?' Ich erwiderte: 'Neunzehneinhalb'. Sie hat mich auf die Stirn geküsst und gesagt: 'Dann kommst du mal wieder, wenn du neunzehneinhalb bist.' Das Vortanzen habe ich aber mitmachen dürfen.
Das Gespräch führte Annemarie Stoltenberg.