Schulen in Norddeutschland: Was sind die größten Herausforderungen?
Werden Schulen im Norden ausreichend von der Politik unterstützt? Wo muss dringend nachgebessert werden? Ein Gespräch mit dem Schulleiter der Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim, René Mounajed.
Herr Mounajed, Ihre Schule versteht sich als "Großraum für gelebte Heterogenität". Vielfältiges Lernen ist Ihr Programm. Wie sehen Sie heute, am Tag der Bildung, den Zustand der praktischen Bildung in der Klasse vor der möglicherweise Digitalen Tafel?
René Mounajed: Dazu müsste die Digitale Tafel da sein. Die Problematik ist, dass die Digitalisierung schon angelaufen ist, aber sie kommt flächendeckend nur in Schritten voran. Oftmals fehlt es an der digitalen Infrastruktur oder an Fragen des digitalen Endgerätes. Die Lehrkräfte haben sich auf den Weg gemacht in die digitale Welt und empfinden das auch als sehr bereichernd. Allerdings kommt die Infrastruktur noch nicht überall hinterher, und das wird auch noch dauern, weil wir Fachkräftemangel haben, weil die Gelder vom Digitalpakt noch abgerufen werden müssen, weil Firmen gefunden werden müssen und so weiter. Bei uns ist gerade das Angebot ausgeschrieben worden, aber wann es wirklich mit dem Ausbau der digitalen Infrastruktur losgeht, steht noch ein bisschen in den Sternen.
Ein anderes Problem ist die Corona-Pandemie: Was fehlt nach fast drei Jahren Pandemie am meisten? Worauf kommt es an, um in die analoge Lernkultur wieder umzusteigen?
Mounajed: Wir merken, dass viele Schülerinnen und Schüler durchaus psychologische Auffälligkeiten haben oder eine besondere Form der Betreuung brauchen. Das ist mit einem Personalschlüssel, wie wir ihn im Moment haben, so nicht leistbar. Es ist schon auffällig, wie viele Schüler artikulieren, dass sie psychologische Unterstützung wünschen oder einfach Gesprächsbedarf haben. Wir Lehrerinnen und Lehrer sind im Moment fast wichtiger als Ansprechpartner und als Lernbegleiter denn als Stoffvermittler. Das ist eine ganz große Baustelle für uns und das hat nach Corona zugenommen, so wird es mir auch aus den verschiedenen Schulformen widergespiegelt. Das Hauptproblem ist das Personal an Schulen. Es gibt kaum eine Schule, die wirklich voll versorgt ist, es fehlen einfach Leute. Das ist der große Schlüssel, an dem man drehen muss, um es zu verbessern.
In Corona-Zeiten haben die Schülerinnen und Schüler nicht mehr dieses feste Gerüst Schule gehabt. Ist Absentismus auch ein großes Problem, dass man gar nicht mehr unbedingt Schule als Pflicht ansieht und sich nur noch das rauspickt, worauf man Lust hat?
Mounajed: Ich würde, ohne auf konkrete Zahlen zurückgreifen zu können, aus dem Bauch heraus sagen: ja. Da muss wieder eine Verbindlichkeit her. Auch Gemeinschaft muss wieder gelernt werden. Wir merken das im Verhalten, in den Pausenhallen: Wie geht man miteinander um? Was ist mit Lautstärke? Wie benehmen wir uns? All das sind Dinge, die wir wieder mehr einüben müssen, die ein bisschen verloren gegangen sind. Wir kommen aber als Lehrkräfte manchmal auch an unsere Grenzen, weil wir merken: Was sollen wir eigentlich noch alles leisten, für was sollen wir noch zur Verfügung stehen? Ich hoffe und erwarte weiterhin, dass wir auch Rückendeckung aus dem Ministerium kriegen, dass sie weiterhin freier verfahren können.
In Hannover ist Julia Willie Hamburg neue Bildungsministerin. Was sind Ihre konkreten Forderungen an die Politik? Was muss jetzt passieren?
Mounajed: Die Hoffnungen sind groß, weil jetzt eine Mehrheit da ist, die wirklich mal Dinge groß verändern kann. Es ist eigentlich die Zeit, um dicke Bretter zu bohren - ich glaube, nur das kann der Schlüssel sein. Wir haben einen Personalmangel, und das heißt, dass wir die Ausbildung von Lehrkräften massiv verändern müssen. Wir müssen sie anpassen. Ich lehne mich mal aus dem Fenster und frage: Ein duales Studium - warum geht das bei Lehrkräfte nicht? Wir müssen die Ausbildung von Schulleitungen dringend reformieren. Die Leitungskompetenzen sind ganz andere geworden - dafür muss man ausgebildet werden. Wie wird mit Gesamtschulbildung umgegangen? Wir brauchen jetzt Mut, die Dinge richtig anzugehen. Ich hoffe, dass das in dieser Legislaturperiode gelingt.
Auf der Internetseite der Robert-Bosch-Gesamtschule steht was von Lern- und Erlebnisräumen. Der Frontalunterricht wird also durch andere Lernformen erweitert. Was sind das für Lern- und Erlebnisräume? Wie wird das Lernen der Zukunft idealerweise ausschauen?
Mounajed: Gute Frage - das weiß ich auch noch nicht so genau. Aber was ich mir wünsche, ist ein Miteinander. Wir lernen auf Augenhöhe, wir lernen miteinander, wir lernen an Projekten und wir lernen fächerübergreifend. Ich glaube, optimal sind Unterrichte, wenn sie an den intrinsischen Motivationen der Schüler andocken, wenn sie Kompetenzen fördern, die die jungen Leute auch brauchen, und wenn wir in der Lage sind, das Ganze auch noch zu individualisieren. Das sind für uns moderne Lernräume. Es müssten Zeiten, Räume und Menschen da sein, um den Schülerinnen und Schülern individuell zu begegnen.
Außerdem brauchen wir ganz viel Ausstattung in allen möglichen Bereichen: nicht nur digital, auch im musikalischen, im künstlerischen Bereich und so weiter, wo Menschen sich entfalten können. Denn Schule soll ja den Menschen dazu befähigen, sich selbst zu finden, zu wissen, wer man ist und was man kann. Das führt am Ende auch dazu, dass jemand ein glückliches, selbstbestimmtes Leben führen kann und weiß, was er oder sie machen möchte. Dazu müssen ja alle Zugänge zur Welt eröffnet werden: der musikalische, der künstlerische, der mathematisch-wissenschaftliche, der naturwissenschaftliche, der historische, der sprachliche. All diese Zugänge müssen wir den jungen Menschen zur Verfügung stellen, und das möglichst spannend. Das wäre vielleicht eine gute Schule der Gegenwart und Zukunft.
Das Interview führte Eva Schramm.