"Poesie handverlesen": Wie übersetzt man Lyrik in Gebärdensprache?
Heute ist "Welt-Tag der Poesie". Franziska Winkler hat das Projekt "Poesie handverlesen" gegründet, in dem es darum geht, Lyrik in Gebärdensprache zu übersetzen. Im Gespräch mit NDR Kultur verrät sie, wie das geht.
Frau Winkler, Lyrik in Bewegung zu übersetzen - wie funktioniert das?
Franziska Winkler: Wir bringen taube Performer*innen, Gebärdensprachpoet*innen und hörende Lyriker*innen zusammen, die gegenseitig - es geht auch in beide Richtungen - ihre Poesien in die jeweilige eigene Sprache übersetzen. Damit versuchen wir vor allen Dingen, Gebärdensprachpoesie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen und einem nicht gebärdensprachlich sprechenden Publikum erfahrbar zu machen, welche Weite und welchen Reichtum Gebärdensprachpoesie hat.
Der Ton, der Klang eines Gedichts, also das, was für Hörende Poesie ausmacht, inwiefern schlägt sich das in Bewegung nieder?
Winkler: Eigentlich in Rhythmus. In der Gebärdensprachpoesie hat der Raum viel mehr Präsenz. Der Text verändert sich von einem ein- oder zweidimensionalen Text zu einem dreidimensionalen Text. Das, was die Stimme in der lautsprachlichen Lyrik ist, ist der Gebärdensprachpoesie der Körper, die Mimik, die Bewegung, der Rhythmus, die Schnelligkeit oder die Langsamkeit. Das macht dieses Gedicht aus und lässt Menschen, die keine Gebärdensprache sprechen, Gebärdensprachpoesie fühlen, weil es trotzdem so am Körper bleibt.
Sie sind Hörende, aber auch Kennerin der Gebärdensprache. Was waren für Sie die Herausforderungen, wenn es um Übersetzung oder Transkription geht?
Winkler: Ich übersetze nicht, sondern meine Aufgabe in diesem Projekt ist, das kuratorisch zu machen. Wir bringen die hörenden Lyriker*innen und die Tauben zusammen. Mir ist es sehr wichtig, dass der Übersetzungsprozess von Künstler*innen gemacht wird, die die Sprache selber sprechen, auch von tauben Performer*innen, von hörenden Lyriker*innen, weil es generell bei Lyrik-Übersetzungen eher so ist, dass es nicht Übersetzer*innen sind, sondern Lyriker*innen, die zwischen Sprachen übersetzen. Man redet da von Nachdichten, weil es darum geht, dieses Gefühl eines Gedichtes zu nehmen und das in die eigene Kultur, die eigenen Sprachgruppe reinzubringen. Das ist das Herausforderndste bei diesen Übersetzungsprozessen, weswegen wir auch sehr intensive Workshop-Wochenenden haben, in denen es auch darum geht, dass die Künstler*innen, die in ihrem Alltag gar nicht so viel Berührung miteinander haben, sich viel besser kennenlernen, miteinander austauschen, bevor sie sich in ihre Übersetzungen bewegen.
Gerade diese von mir an anfangs beschriebene Dreidimensionalität ist sehr schwer auf ein Blatt Papier zu kriegen. Das hat andere Grenzen als der Raum und der Körper. Je länger wir in diesen Übersetzungsprozessen drin sind und je öfter wir mit den gleichen Künstler*innen arbeiten, desto mehr sieht man, wie extrem sich die Übersetzungen verändern, viel konkreter in Richtung konkrete, räumliche Poesie gehen, weil das diesen 3D-Rahmen noch mal anders spiegeln kann.
Wenn gehörlose Menschen Poesie schaffen, ohne den Umweg übers Papier zu gehen, inwiefern entsteht da eine eigene Semantik der Gebärdenpoesie?
Winkler: Der Prozess ist eigentlich genauso wie bei einer hörenden Lyrikerin. Es ist wichtig zu wissen, dass Gebärdensprache eine eigene Sprache ist, eine eigene Grammatik und Semantik hat. Es ist eine eigenständige Sprache, die sich von der deutschen Lautsprache total unterscheidet. Die Sprachen haben nichts miteinander zu tun, außer dass sie den gleichen Referenzrahmen bedienen. Deswegen ist der Prozess bei einer tauben Poetin ähnlich wie bei einer hörenden Lyrikerin, nur dass es statt des Papiers immer wieder übers Video geht. Man nimmt sich auf, korrigiert sich, nimmt sich wieder auf, probiert es vor dem Spiegel. Natürlich machen sie sich auch Notizen, aber die sind sehr unterschiedlich: Eine Person zeichnet sehr viel, eine andere macht nur kleine Wort-Notizen, um sich die Reihenfolge aufzubauen.
Der wichtigste Punkt ist, zu verstehen, dass die deutsche Gebärdensprache eine eigenständige Sprache ist, die sich von der Lautsprache unterscheidet und deswegen auch einen eigenen Rahmen in der Poesie bildet. Man kann über die Handform Reime entstehen lassen oder über die Körperstellung, wo man die Gebärde ausführt. Es gibt sehr starke Metaphern, die Mimik kann verändern, ob das Gedicht sarkastisch ist oder ironisch ist und in welche Richtung, in welche Stimmung das Gedicht geht.
Das Gespräch führte Mischa Kreiskott.
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