New Work: Was passiert, wenn es keine Chefs mehr gibt

Stand: 26.02.2023 13:45 Uhr

Mehr Mitbestimmung, flexible Arbeitszeiten und neue Bürokonzepte: New Work verändert die Berufswelt. Bei der Firma Einhorn geht das so weit, dass Mitarbeitende ihr Gehalt selbst festlegen.

von Gesa Berg

Beim Berliner Kondomhersteller Einhorn ist alles anders: Es gibt keine Chefs, gleichen Lohn für weniger Arbeit und Urlaub nach eigenem Ermessen. Das Unternehmen lebt New Work - doch was ist das eigentlich? "New Work heißt für uns in erster Linie, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen", so Markus Wörner, der bei Einhorn für den Bereich "people & culture" verantwortlich ist. "Wir wollen den Versuch antreten, eine Arbeitswelt zu schaffen, wo wir Arbeit gut in unser eigenes Leben integrieren können."

Möglichst wenig Regeln und eine 32-Stunden-Woche 

Der Arbeitsalltag wird bei Einhorn ganz neu gedacht, schon seit sieben Jahren. Die mittlerweile 25 Mitarbeitenden wollen sich möglichst wenig Regeln geben und haben eine 32-Stunden-Woche, die komplett frei ausgestaltet werden darf. 

"Für mich ist der größte Vorteil, dass ich arbeite, wenn es gerade sinnvoll ist", erzählt Designerin Juliane Lang. "Früher saß ich bis zu elf Stunden in der Agentur, selbst wenn gar nicht so viel zu tun war. Im Alltag heiß New Work für mich, dass ich intensiv arbeite, wenn viel zu tun ist. Und wenn weniger los ist, gehe ich nachmittags vielleicht auch mal früher und entspanne mich. Das führt zu einer ziemlichen Zufriedenheit."

Kondomhersteller Einhorn: Gründer wollen keine Chefs sein 

Die zwei Gründer von Einhorn wollen keine Chefs sein. Entscheidungen werden vom ganzen Team getroffen. Die Stimme jedes Einzelnen hat Gewicht, die Verantwortung für die Firma tragen alle gemeinsam. Das kann auch mal anstrengend sein, berichtet Designerin Anna Kusnier: "Man muss sich aufeinander einstellen. Und es ist manchmal krass nervig, weil man sich so viel abstimmen muss."

Neues Arbeiten wird immer wichtiger, gerade auch in Zeiten von Fachkräftemangel. Davon ist auch das Hamburger Unternehmen New Work SE überzeugt, wozu auch das Job-Netzwerk Xing gehört. Um die Angestellten nach der Pandemie wieder ins Büro zu locken, durften sie die Räume mitgestalten. So gibt es jetzt einen Bandprobenraum, Sportmöglichkeiten, ein Kaminzimmer und eine Bar. 

"Neue Form von Führung braucht auch Hierarchien"

"Es gibt Bücher und Ideen zu komplett hierarchielosen Organisationen", erzählt Christoph Stanek, bei New Work SE zuständig für die Unternehmenskommunikation. "So funktioniert es bei uns nicht. Unser Verständnis ist schon, dass es in einer neuen Form von Führung Hierarchie braucht, um Rahmenbedingungen vorzugeben. Es muss aber nicht mehr so sein, dass jemand hinterm Schreibtisch steht und kontrolliert, ob ich auch wirklich von 9 bis 18 Uhr gearbeitet habe. Das ist nicht mehr zeitgemäß."

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New Work SE richtet auch einen jährlichen Award aus. Im vergangenen Jahr gewann Vanessa Jobst-Jürgens einen der Preise. Vereinbarkeit von Job und Familie wurde für die Unternehmensberaterin ein riesiges Thema, als sie selbst Mutter wurde. Sie machte eine Studie und schrieb ein Buch. Ihre These: Neue Arbeitsmodelle sind in vielen Branchen möglich, auch jenseits der Büros. Jobst-Jürgens hat zum Beispiel eine große Baufirma beraten: Auch dort können hierarchische Strukturen aufgebrochen werden, zugunsten von mehr Verantwortung und Wertschätzung der Einzelnen. 

New Work geht bei jeder Organisation anders 

"Ich glaube, Organisationen haben zum Teil Angst davor, das Thema New Work anzugehen", so die Unternehmensberaterin. "Sie glauben, da kommt dann jemand und gibt 17 Maßnahmen rein, die dann von heute auf morgen mit ganz viel Geld umgesetzt werden müssen. Aber tatsächlich ist New Work keine Schablone, die ich von Organisation zur Organisation trage, sondern etwas, das man immer individuell herausarbeitet. Man muss immer gucken: Was ist die Superkraft des Unternehmens?"

Eine weitere wichtige Frage: Was wollen die Mitarbeitenden? Es geht um mehr Zufriedenheit. Unternehmen und Führungskräfte müssen sich verändern, denn Neues Arbeiten ist nicht nur Homeoffice und der obligatorische Obstkorb. "New Work ist auch ein wirtschaftliches Thema", so Jobst-Jürgens. "Zahlen zeigen ganz konkret: Ein Unternehmen, das sich familienfreundlich aufstellt, mit flexiblen Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen, hat eine geringere Fluktuationsrate und auch weniger Krankheitstage."

"2.000 Euro nach unten oder oben nach eigenem Ermessen"

Auch Einhorn versteht sich als soziales, familienfreundliches Unternehmen. Durch die neu eingeführte Vier-Tage-Woche haben sie keine Umsatzeinbußen erlebt. Und verdient wird nicht weniger als anderswo, aber es wird transparent verteilt.  "Es gibt mittlerweile ein relativ simples Gehaltssystem", so Markus Wörner. "Da wird so ein bisschen Berufserfahrung wertgeschätzt, es fließen aber auch soziale Elemente ein. Beispielsweise gibt es bei uns 700 Euro brutto mehr, wenn man ein Kind bekommt, weil wir junge Familien unterstützen wollen. Es gäbe aber auch Geld für Elternpflege. Und dann kann tatsächlich jede Person bei uns 2.000 Euro nach oben oder unten gehen, um nach eigenem Ermessen das Gehalt selbst anzupassen."

Für emotionale oder schwierige Themen wie dem Gehalt wählen die Einhörner Gremien auf Zeit, die aber nur beratend tätig sind. Wörner erklärt: "Wir haben so einen ganz billigen Satz, den wir immer sagen: Wenn man Erwachsene wie Erwachsene behandelt, verhalten sie sich auch wie Erwachsene. Das ist auch wirklich so. Es geht darum, Vertrauen zu schenken und dieses Vertrauen wiederzubekommen. Und die meisten Leute sind ja wirklich vernunftbegabt und haben auch ein Interesse daran, dass die Firma läuft - und dann wird das tatsächlich nicht ausgenutzt."

Sechs Millionen Euro Umsatz hat Einhorn im letzten Jahr gemacht - New Work funktioniert, allen Skeptikern zum Trotz. Man kann das gängige Wirtschaftssystem auf den Kopf stellen und trotzdem erfolgreich sein. 

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