"Nationaler Lesepakt": Förderung der Lesekompetenz für bessere Bildungschancen
Laut der aktuellen PISA-Studie ist die Lesekompetenz hierzulande gesunken. Dabei ist Lesen die Qualifikation, die alle weitere Bildung erst ermöglicht. Der "Nationale Lesepakt" möchte das fördern.
Kultur ist hierzulande Länderangelegenheit - und doch wurde im März 2021 ein "Nationaler Lesepakt" geschlossen. Getragen wird er von etlichen Stiftungen, Verlagen und Großbuchhandlungen, aber auch von Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und der Agentur für Arbeit. Zu den Medienhäusern, die den Lesepakt mittragen, gehört auch der NDR. Schirmherrin ist die Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger. Ihr Staatssekretär Jens Brandenburg gestaltet den "Nationalen Lesepakt" maßgeblich mit aus.
Herr Brandenburg, nehmen Sie uns ein bisschen mit, was passiert da ganz konkret?
Jens Brandenburg: Es geht im Wesentlichen um die unterschiedlichen Akteure. Denken Sie beispielsweise an die Deutsche Bahn, die in ihren Zeitschriften immer wieder auch junge Menschen ansprechen will, die mit kleinen Texten Lust zum Lesen machen will. Es sind aber auch viele ehrenamtliche Lesepaten, die sich dafür einsetzen, mehr Menschen fürs Lesen zu begeistern. Die bringen sich im Nationalen Lesepakt ein, um diese Informationen auszutauschen, Synergien zu nutzen und sich vor allen Dingen auch besser miteinander zu vernetzen. Das ist aber nur ein Instrument von vielen. Dahinter stecken auch viele Förderungen, auch aus unserem Bundesbildungsministerium, wo wir letztendlich solche Maßnahmen in die Fläche bringen und stärken wollen.
Welche Rolle kann da das Bundesministerium spielen, wenn die Leseförderung letztlich in den Händen der Schulen liegt und damit bei den Ländern?
Brandenburg: Natürlich wird Lesen primär in der Schule beigebracht, und Schulpolitik ist Ländersache. Aber in Wahrheit gehört das Alter davor und danach mit dazu. Wir sehen, dass einer der größten Faktoren für die Frage, wie groß der Bildungserfolg oder die Lesefähigkeit später sein wird, ist, ob jungen Kindern im Alter von zwei oder drei Jahren vorgelesen wird. Das können die eigenen Eltern sein, die Großeltern, ehrenamtliche Lesepaten oder viele weitere. Wir aus dem Bundesministerium unterstützen Projekte wie "Lesestart 1-2-3"; da erhalten sehr junge Kinder ein Buchgeschenk und die Eltern weitere Informationsmaterialien. Wir wollen somit im ersten Schritt die Hürde des Vorlesens schon möglichst gering halten, weil wir in den Bildungsvergleichen sehen, dass es große soziale Unterschiede gibt. Und die Bildungschancen dürfen nicht länger davon abhängen, in welchem Elternhaus, mit welcher sozialen Herkunft man aufwächst.
Die PISA-Studie hat gerade wieder belegt, dass die Lesekompetenz gesunken ist. Es sind nur drei von vier Schülern, die das Mindestmaß, also die grundsätzlichen Anforderungen, erfüllen. An den nicht-gymnasialen Schulen sind es sogar nur weniger als sieben von zehn Schülern. Was läuft da schief?
Brandenburg: Die Ergebnisse sind in der Tat erschreckend. Das haben viele Bildungsstudien gezeigt, dass sie sich in den letzten Jahren nochmals verschlechtert haben. Ein Teil der Erklärung sind insbesondere die verheerenden Schulschließungen während der Corona-Pandemie. Das darf sich nie wiederholen. Ein anderer Teil der Erklärung ist auch, dass wir einen besonders hohen Anteil an Zugewanderten haben. Beispielsweise haben wir aktuell über 200.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine in den deutschen Schulen. Aber auch bei allen anderen sind die Kompetenzen eher nach unten gegangen, und das muss wirklich zu denken geben.
Wir haben mit dem Startchancen-Programm, dem größten Bildungsprogramm von Bund und Ländern, was es bisher je gegeben hat - das wird in diesem Sommer an den Start gehen -, einen besonderen Fokus auf die Schulen mit den größten sozialen Benachteiligungen gelegt und werden gemeinsam mit den Ländern vor allen Dingen die Grundkompetenzen - lesen, schreiben, rechnen - besonders starken. Das ist ein Schritt von mehreren, die jetzt besonders wichtig sind. Wir dürfen uns nicht damit zufrieden geben, dass immer mehr Kinder und Jugendliche nicht ausreichend lesen können.
Stichwort ehrenamtliches Engagement: Manche finden gar nicht zu den Institutionen hin. Wie ist es bei der Leseförderung, wenn man Interesse hat, da mitzumachen?
Brandenburg: Es gibt sehr unterschiedliche Initiativen, oftmals gibt es Lesementoren vor Ort. Ich bin in einem sehr ländlichen Raum aufgewachsen, und es gibt durchaus auch viele Senioren und Seniorinnen, die daran teilnehmen. Es gibt einen Bundesverband der Leselernhelfer, "Mentor", an den man sich für weitere Kontakte wenden kann. Es lohnt sich immer, auch in kleinen Gruppen: Man kann bei der Grundschule nebenan mal nachfragen, ob es da nicht Kinder gibt, die man mit unterstützen kann. Wir sehen in vielen Kontexten, dass Kinder zu wenig vorgelesen bekommen oder später selbst Lust bekommen zu lesen - und das bedeutet eine große Benachteiligung im Bildungsverlauf. Wenn ich nicht ausreichend lesen und schreiben kann, wird es auch schwierig in den Naturwissenschaften, im Studium, in der Ausbildung, im Beruf. Aber es ist vor allen Dingen auch eine Frage der gesellschaftlichen Teilhabe, wenn es beispielsweise darum geht, den eigenen Arbeitsvertrag oder den Fahrplan an der Bushaltestelle zu verstehen. Da sind wirklich alle gefragt. Und jeder, der aktiv unterstützen kann, ist da herzlich willkommen.
Sechs Millionen Erwachsene können nicht richtig lesen - was passiert mit denen?
Brandenburg: Das ist eine sehr heterogene Zielgruppe, und es gibt sehr unterschiedliche Gründe dafür. Wir unterstützen seitens der Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern im Rahmen der AlphaDekade viele Projekte, die vor Ort insbesondere erwachsene Menschen adressieren. Das fängt an bei der kleinen Online-Unterstützung bis hin zu Seminaren und Kursen vor Ort, oftmals sehr niedrigschwellig. Ein häufiges Missverständnis, das man in diesem Kontext hat, ist, dass es gar nicht primär nur darum geht, einzelne Worte zu erkennen oder einzelne Sätze vorlesen zu können, sondern oftmals auch die Frage, ob gesamte Texte sinnerfassend gelesen werden können, sodass man am Ende auch verstanden hat, was Gegenstand dieses Textes ist. Das ist manchmal je nach Bildungshintergrund und Biografie eine große Herausforderung. Wir wollen dieses Thema weiter enttabuisieren. Es ist also wichtig, dass auch im privaten Umfeld offen über solche Fragen gesprochen wird und dass erwachsenen Menschen möglichst niedrigschwellig Angebote angeboten werden, um selbst weiter lernen zu können und sich diese Fähigkeiten anzueignen. Denn es ist eine Frage der gesellschaftlichen Teilhabe.
Das Interview führte Mischa Kreiskott.