Jens Brandenburg © imago
Jens Brandenburg © imago
Jens Brandenburg © imago
AUDIO: "Nationaler Lesepakt": Förderung der Lesekompetenz für bessere Bildungschancen (7 Min)

"Nationaler Lesepakt": Förderung der Lesekompetenz für bessere Bildungschancen

Stand: 23.04.2024 16:38 Uhr

Laut der aktuellen PISA-Studie ist die Lesekompetenz hierzulande gesunken. Dabei ist Lesen die Qualifikation, die alle weitere Bildung erst ermöglicht. Der "Nationale Lesepakt" möchte das fördern.

Kultur ist hierzulande Länderangelegenheit - und doch wurde im März 2021 ein "Nationaler Lesepakt" geschlossen. Getragen wird er von etlichen Stiftungen, Verlagen und Großbuchhandlungen, aber auch von Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und der Agentur für Arbeit. Zu den Medienhäusern, die den Lesepakt mittragen, gehört auch der NDR. Schirmherrin ist die Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger. Ihr Staatssekretär Jens Brandenburg gestaltet den "Nationalen Lesepakt" maßgeblich mit aus.

Herr Brandenburg, nehmen Sie uns ein bisschen mit, was passiert da ganz konkret?

Jens Brandenburg: Es geht im Wesentlichen um die unterschiedlichen Akteure. Denken Sie beispielsweise an die Deutsche Bahn, die in ihren Zeitschriften immer wieder auch junge Menschen ansprechen will, die mit kleinen Texten Lust zum Lesen machen will. Es sind aber auch viele ehrenamtliche Lesepaten, die sich dafür einsetzen, mehr Menschen fürs Lesen zu begeistern. Die bringen sich im Nationalen Lesepakt ein, um diese Informationen auszutauschen, Synergien zu nutzen und sich vor allen Dingen auch besser miteinander zu vernetzen. Das ist aber nur ein Instrument von vielen. Dahinter stecken auch viele Förderungen, auch aus unserem Bundesbildungsministerium, wo wir letztendlich solche Maßnahmen in die Fläche bringen und stärken wollen.

Weitere Informationen
Ein Junge liegt, angelehnt an einen weißen Hund, in einem Bett und liest ein Buch. © picture alliance / Westend61 | Elena Medoks

"Kompetenz macht glücklich": Wie Kinder besser lesen lernen

Studien zeigen: In Deutschland können Kinder nicht gut genug lesen. Im Norden gibt es Ansätze, wie man das beheben kann. mehr

Welche Rolle kann da das Bundesministerium spielen, wenn die Leseförderung letztlich in den Händen der Schulen liegt und damit bei den Ländern?

Brandenburg: Natürlich wird Lesen primär in der Schule beigebracht, und Schulpolitik ist Ländersache. Aber in Wahrheit gehört das Alter davor und danach mit dazu. Wir sehen, dass einer der größten Faktoren für die Frage, wie groß der Bildungserfolg oder die Lesefähigkeit später sein wird, ist, ob jungen Kindern im Alter von zwei oder drei Jahren vorgelesen wird. Das können die eigenen Eltern sein, die Großeltern, ehrenamtliche Lesepaten oder viele weitere. Wir aus dem Bundesministerium unterstützen Projekte wie "Lesestart 1-2-3"; da erhalten sehr junge Kinder ein Buchgeschenk und die Eltern weitere Informationsmaterialien. Wir wollen somit im ersten Schritt die Hürde des Vorlesens schon möglichst gering halten, weil wir in den Bildungsvergleichen sehen, dass es große soziale Unterschiede gibt. Und die Bildungschancen dürfen nicht länger davon abhängen, in welchem Elternhaus, mit welcher sozialen Herkunft man aufwächst.

Die PISA-Studie hat gerade wieder belegt, dass die Lesekompetenz gesunken ist. Es sind nur drei von vier Schülern, die das Mindestmaß, also die grundsätzlichen Anforderungen, erfüllen. An den nicht-gymnasialen Schulen sind es sogar nur weniger als sieben von zehn Schülern. Was läuft da schief?

Brandenburg: Die Ergebnisse sind in der Tat erschreckend. Das haben viele Bildungsstudien gezeigt, dass sie sich in den letzten Jahren nochmals verschlechtert haben. Ein Teil der Erklärung sind insbesondere die verheerenden Schulschließungen während der Corona-Pandemie. Das darf sich nie wiederholen. Ein anderer Teil der Erklärung ist auch, dass wir einen besonders hohen Anteil an Zugewanderten haben. Beispielsweise haben wir aktuell über 200.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine in den deutschen Schulen. Aber auch bei allen anderen sind die Kompetenzen eher nach unten gegangen, und das muss wirklich zu denken geben.

Wir haben mit dem Startchancen-Programm, dem größten Bildungsprogramm von Bund und Ländern, was es bisher je gegeben hat - das wird in diesem Sommer an den Start gehen -, einen besonderen Fokus auf die Schulen mit den größten sozialen Benachteiligungen gelegt und werden gemeinsam mit den Ländern vor allen Dingen die Grundkompetenzen - lesen, schreiben, rechnen - besonders starken. Das ist ein Schritt von mehreren, die jetzt besonders wichtig sind. Wir dürfen uns nicht damit zufrieden geben, dass immer mehr Kinder und Jugendliche nicht ausreichend lesen können.

Weitere Informationen
In einer Schulklasse schreibt ein Schüler an eine Tafel. © dpa-Bildfunk Foto: Julian Stratenschulte

Kritik an PISA-Studie: "Da werden Äpfel mit Birnen verglichen"

Am Dienstag ist die neue PISA-Studie erschienen. Bildungsforscher Rainer Bölling kritisiert, dass sie nicht überall nach den gleichen Regeln entsteht. mehr

Stichwort ehrenamtliches Engagement: Manche finden gar nicht zu den Institutionen hin. Wie ist es bei der Leseförderung, wenn man Interesse hat, da mitzumachen?

Brandenburg: Es gibt sehr unterschiedliche Initiativen, oftmals gibt es Lesementoren vor Ort. Ich bin in einem sehr ländlichen Raum aufgewachsen, und es gibt durchaus auch viele Senioren und Seniorinnen, die daran teilnehmen. Es gibt einen Bundesverband der Leselernhelfer, "Mentor", an den man sich für weitere Kontakte wenden kann. Es lohnt sich immer, auch in kleinen Gruppen: Man kann bei der Grundschule nebenan mal nachfragen, ob es da nicht Kinder gibt, die man mit unterstützen kann. Wir sehen in vielen Kontexten, dass Kinder zu wenig vorgelesen bekommen oder später selbst Lust bekommen zu lesen - und das bedeutet eine große Benachteiligung im Bildungsverlauf. Wenn ich nicht ausreichend lesen und schreiben kann, wird es auch schwierig in den Naturwissenschaften, im Studium, in der Ausbildung, im Beruf. Aber es ist vor allen Dingen auch eine Frage der gesellschaftlichen Teilhabe, wenn es beispielsweise darum geht, den eigenen Arbeitsvertrag oder den Fahrplan an der Bushaltestelle zu verstehen. Da sind wirklich alle gefragt. Und jeder, der aktiv unterstützen kann, ist da herzlich willkommen.

Sechs Millionen Erwachsene können nicht richtig lesen - was passiert mit denen?

Brandenburg: Das ist eine sehr heterogene Zielgruppe, und es gibt sehr unterschiedliche Gründe dafür. Wir unterstützen seitens der Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern im Rahmen der AlphaDekade viele Projekte, die vor Ort insbesondere erwachsene Menschen adressieren. Das fängt an bei der kleinen Online-Unterstützung bis hin zu Seminaren und Kursen vor Ort, oftmals sehr niedrigschwellig. Ein häufiges Missverständnis, das man in diesem Kontext hat, ist, dass es gar nicht primär nur darum geht, einzelne Worte zu erkennen oder einzelne Sätze vorlesen zu können, sondern oftmals auch die Frage, ob gesamte Texte sinnerfassend gelesen werden können, sodass man am Ende auch verstanden hat, was Gegenstand dieses Textes ist. Das ist manchmal je nach Bildungshintergrund und Biografie eine große Herausforderung. Wir wollen dieses Thema weiter enttabuisieren. Es ist also wichtig, dass auch im privaten Umfeld offen über solche Fragen gesprochen wird und dass erwachsenen Menschen möglichst niedrigschwellig Angebote angeboten werden, um selbst weiter lernen zu können und sich diese Fähigkeiten anzueignen. Denn es ist eine Frage der gesellschaftlichen Teilhabe.

Das Interview führte Mischa Kreiskott.

Weitere Informationen
Eine Frau liegt auf dem Sofa, hat ihre Füße hochgelegt und liest ein Buch. © picture alliance / Klaus Ohlenschläger Foto: Klaus Ohlenschläger

"Welttag des Buches": Warum lese ich eigentlich?

Wer liest denn überhaupt noch? Und warum? Das ist unsere große Frage am "Welttag des Buches". Einer liest auf alle Fälle: NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch. mehr

Sonderpädagogin Claudia Brühn übt mit Grundschülern lesen. © NDR Foto: Anne Passow

Viel Arbeit, zu wenig Kräfte: Wie Sonderpädagogen Schülern in SH helfen

Gerade im Süden Schleswig-Holsteins gibt es viele unbesetzte Stellen und viel zu tun - wie der Blick auf eine Grundschule in Schwarzenbek zeigt. mehr

Olivia Jones liest einer Gruppe von Kindern vor © picture alliance/dpa/www.olivia-jones.de | --

Olivia Jones erhält Deutschen Lesepreis 2024

Der Preis ist seit Langem eine Instanz der Sprach- und Leseförderung. Er wird an prominente Persönlichkeiten verliehen, die sich als Lesebotschafter hervortun. mehr

Ein Mädchen umgreift einen hohen Stapel mit Büchern. © fotolia.com Foto: photophonie

Rein in die Bibliothek: Wie Stralsund Kinder zum Lesen bringt

Die Stadtbibliothek Stralsund wirbt aktiv um junge Leserinnen und Leser: mit Kindergartenbesuchen oder dem Projekt Büchertürme. mehr

Kirsten Boie © Screenshot

Kommentar zur IGLU-Studie: Lesekompetenz ist nationale Aufgabe

Fast 20 Prozent der Viertklässler können nicht richtig lesen. Dagegen müsse dringend etwas getan werden, meint Kirsten Boie im Kommentar. mehr

Ein Junge stützt seinen Kopf auf seine Hand und schaut skeptisch in ein Buch. © picture alliance / imageBROKER Foto: Dr. Wilfried Bahnmüller

Jedes fünfte Kind kann nicht richtig lesen

Fast 20 Prozent der Viertklässler können nicht richtig lesen. Experten erklären, warum Grundschulen in Deutschland Nachholbedarf in der Leseförderung haben. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 23.04.2024 | 16:45 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Kinderbücher

Romane

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Szene aus dem Film "Vena" © Neue Bioskop Film Foto: Lisa Jilg

Junkie-Drama "Vena": Schwanger im Gefängnis

Chiara Fleischhacker zeichnet in ihrem Abschlussfilm der Filmakademie Ludwigsburg eine genaue Milieustudie. mehr