Stand: 22.04.2019 10:00 Uhr

Jedes fünfte Kind kann nicht richtig lesen

von Katharina Mahrenholtz

Fast 20 Prozent der Kinder in Deutschland können nach der Grundschule nicht lesen - so ein Ergebnis der letzten Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (kurz IGLU). Auch die weiterführenden Schulen klagen, dass die Kinder zunehmend Probleme mit komplexen Texten haben. Wird das Lesen in den Grundschulen vernachlässigt? Und was kann man tun? Mit diesem Thema befassen sich die NDR Kulturredaktionen in dieser Woche.

Mädchen liest gespannt in einem Buch © colourbox Foto: -
Fast ein Fünftel der Viertklässler in Deutschland können nicht richtig lesen. Die Gründe dafür sind vielfältig.

18,9 Prozent - also fast ein Fünftel - der Viertklässler in Deutschland können laut der IGLU-Studie nicht richtig lesen. Die Kinder schaffen es zwar, Wörter zu entziffern, sind aber mit längeren Texten überfordert. Sie lesen langsam und erkennen Wörter nicht als Ganzes, sondern müssen sie Buchstabe für Buchstabe zusammensetzen. "Das hat dann zur Folge, dass man - etwas überspitzt gesagt - am Ende eines Satzes nicht mehr weiß, was man am Anfang gelesen hat", erklärt Albert Bremerich-Vos, Professor im Ruhestand für Linguistik und Sprachdidaktik und Autor der bisherigen IGLU-Studien.

So komme es nicht zu einem Verständnis des Textes, sondern das Kind müsse laut Bremerich-Vos so viel Aufwand für einzelne Wörter und Sätze betreiben, dass für das Verstehen nicht ausreichend Ressourcen da seien.

Zusammenhang zwischen Leseleistung und sozialem Hintergrund

Was genau die Gründe für ein gutes oder schlechtes Abschneiden einzelner Länder bei der IGLU-Studie sind, darüber kann auch Albert Bremerich-Vos nur spekulieren. Was man allerdings sicher weiß, ist, dass es einen Zusammenhang von Leseleistung und sozialem Hintergrund gibt. Und da sind die Ergebnisse in Deutschland besonders besorgniserregend.

"Deutschland gehört neben der Slowakei, neben Slowenien und Ungarn zu den vier Staaten, in denen es seit 2001 - also seit der ersten IGLU-Studie - eine signifikante Vergrößerung der 'sozialen Disparitäten' gegeben hat", stellt Bremerich-Vos fest. Der Abstand der Kinder, die aus sogenannten bildungsfernen Milieus stammen, und den Kindern aus anderen Milieus sei in Deutschland seit 2001 größer geworden. "Und da sind wir international wirklich schlecht unterwegs."  

Kinder sind mit unterschiedlichen Voraussetzungen in der Schule

Die Heterogenität der Schüler sei eines der größten Probleme der Grundschulen. Die Kinder kommen schon mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen in die erste Klasse. Manche sind - wie Didaktiker sagen - noch gar nicht schulfähig. Das heißt, sie können nicht zuhören, sich nicht ausdrücken, nicht zählen, sich nicht konzentrieren.

Da habe sich in den letzten Jahren schon viel verändert, erzählt Natalia Gonzales, Grundschullehrern in Hamburg: "Man gibt ihnen eine Spielzeit und die Kinder wissen einfach nicht mehr, was sie tun sollen. Der erste Satz, der kommt, ist: 'Mir ist langweilig.' Es gibt Spielzeuge, Bücher, andere Kinder, mit denen sie sich beschäftigen können - aber die Kinder wissen es einfach nicht mehr zu nutzen", sagt die Grundschullehrerin. Auch draußen seien die einfachsten Spiele wie Verstecken oder Fangen zu langweilig und zu wenig aktionsreich.

Viele Kinder lesen in ihrer Freizeit nicht

Kirsten Boie sitzt mit Jan-Malte Andresen im Tonstudio des Landesfunkhauses in Kiel. © NDR Foto: Dominik Dührsen
Nach dem Studium arbeitete die Hamburger Kinderbuchautorin Kirsten Boie erst als Lehrerin an Gymnasien und Ganztagsschulen.

Und das habe auch etwas mit der ständigen Verfügbarkeit von Handys oder Tablets zu tun. Lesen als Freizeitbeschäftigung kommt bei vielen Kindern nicht mehr vor. Umso wichtiger wird die Leseförderung in der Schule. Hier ist die Politik gefragt, meint die Autorin Kirsten Boie, die für eine bessere Leseförderung kämpft. Die Initiatorin der "Hamburger Erklärung" findet, man müsse mit der Leseförderung in den Kindergärten und Vorschulen anfangen und den Deutschunterricht in den Schulen verstärken.

Lehrermangel in Deutschland

Denn auch das sind Ergebnisse der IGLU-Studie: In anderen Ländern werden im Durchschnitt doppelt so viele Wochenstunden für das Lesenlernen eingeplant und nur ein Drittel der leseschwachen Kinder in Deutschland bekommen tatsächlich schulische Förderung. Für mehr Deutschunterricht bräuchte man allerdings mehr Lehrpersonal - und auch da sieht es in Deutschland schlecht aus. 

Zu wenig Studienplätze für Lehrer

"Jeder weiß, dass es viele Quereinsteiger gibt, weil wir einfach nicht genügend Grundschullehrer haben, weil so viele Studienplätze abgebaut wurden", sagt Boie. Man wisse ja, dass die Kinder geboren wurden und irgendwann in die Schule kommen. "Warum trotzdem die Studienplätze abgebaut wurden, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hofft jedes Land, dass ein anderes Land seine Lehrer ausbildet."

Dass alle Kinder nach der Grundschule sicher lesen können, so Kirsten Boie, muss eine nationale Aufgabe werden. Immerhin: Für dieses Jahr haben sich die Kultusminister explizit vorgenommen, die Bildungssprache Deutsch zu stärken.

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Kultur | 23.04.2019 | 06:55 Uhr

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