Viel Arbeit, zu wenig Kräfte: Wie Sonderpädagogen Schülern in SH helfen
Sie helfen Kindern dabei, den Anschluss an das Schulsystem nicht zu verlieren: Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen. Doch gerade im Süden Schleswig-Holsteins - in der Nähe zu Hamburg - gibt es viele unbesetzte Stellen - und sehr viel zu tun.
Leon, sechs Jahre, entziffert Silbe für Silbe. "La Le Lo Lu" liest er, rutscht mit den Fingerspitzen über das DIN-A4-Blatt und mit seinem Körper auf dem Stuhl hin und her. Man merkt, so richtig Lust hat er nicht. Der Leseunterricht bei Claudia Brühn strengt ihn an. Gemeinsam mit vier weiteren Erstklässlern der Grundschule Nordost in Schwarzenbek (Kreis Herzogtum Lauenburg) nimmt Leon am Leseförderunterricht teil. Einmal pro Woche kommen sie dafür in einem Container zusammen, der auf dem Gelände ihrer Grundschule aufgebaut ist. Schüler, die Schwierigkeiten haben, Lesen zu lernen, werden hier unterstützt. Zuständig für diesen Unterricht sind Sonderpädagoginnen wie Claudia Brühn, Cornelia Scheibe und Dörte van der Steen vom Förderzentrum Centa Wulf.
Den Anschluss nicht verlieren
"Mit den ersten und zweiten Klassen arbeiten wir präventiv", erklärt Brühn. Zudem fördern sie und ihre Kolleginnen etwas ältere Kinder, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf bescheinigt bekommen haben. Die Pädagoginnen sorgen dafür, dass diese Kinder den Anschluss an das Schulsystem möglichst nicht verlieren. Und das läuft vor allem übers Lesenlernen, betont Cornelia Scheibe. "Wenn sie nicht lesen können, dann kommen sie später nirgendwo weiter: Naturwissenschaften, Geografie, Politik. Lesen ist die Grundlage. Wenn man das nicht kann, ist das Schulversagen vorprogrammiert", fasst sie zusammen.
"Wenn man nicht lesen kann, dann ist das Lernen in den Naturwissenschaften, in Geografie, in Politik in den weiterführenden Schulen einfach nicht möglich. Das heißt: Wer das nicht schafft, bei dem ist das Schulversagen vorprogrammiert. Gerade wenn sie dann in die Pubertät kommen und alles dann auch nicht mehr wollen. Dann haben wir verloren." Sonderpädagogin Cornelia Scheibe
Nur 12 von 20 Stellen besetzt
Zu tun haben die Sonderpädagoginnen jede Menge - und eigentlich mehr, als sie leisten können. "Wir haben acht offene Planstellen", sagt Claudia Brühn, die auch kommissarische Schulleiterin des Centa Wulf Förderzentrums ist. Von 20 Stellen für Sonderpädagogen sind nur 12 besetzt. "Wir würden sofort einstellen", so Brühn.
Viele Stellen mit Vertretungslehrkräften besetzt
Dabei sehen die Zahlen der schleswig-holsteinischen Landesregierung auf den ersten Blick gar nicht schlecht aus. Demnach gibt es im Schuljahr 2023/24 insgesamt 2.657 Stellen für Sonderpädagogen an den 86 Förderzentren des Landes. Im Oktober 2023 waren davon gut 2.550 Stellen besetzt - das sind gut 96 Prozent. Doch der Schein trügt. "Unsere Mitglieder melden uns zurück, dass Stellen zum Teil mit Vertretungslehrkräften besetzt sind. Das sind also keine ausgebildeten Sonderpädagogen und sie können bestimmte Arbeiten nicht übernehmen, wodurch dann die Belastung der Sonderpädagogen steigt", erklärt Hendrik Reimers, der Vorsitzende des Landesverbandes Sonderpädagogik. Tatsächlich spricht das schleswig-holsteinischen Bildungsministerium auf Nachfrage von NDR Schleswig-Holstein von insgesamt 461 Vertretungslehrkräften, die im Land auf sonderpädagogischen Stellen eingesetzt sind.
Versorgungslage am Hamburger Rand schwierig
Zudem gibt es in Schleswig-Holstein ein starkes Nord-Süd-Gefälle. Denn die Europa-Universität Flensburg bietet die Bachelor- und Masterstudiengänge Sonderpädagogik an. "Viele stellen danach fest: Flensburg ist eine schöne Stadt und möchten dort oder in der Umgebung arbeiten", resümiert Hendrik Reimers. "So haben wir in Flensburg, in den Kreisen Nordfriesland und Schleswig-Flensburg eine sehr gute Versorgung." Sprich: Planstellen sind hier meist auch mit Sonderpädagogen besetzt. Je weiter man südlich kommt, desto schwieriger wird jedoch laut Reimers die Versorgungslage. Zusätzlich zieht das nahe Hamburg viele Sonderpädagogen aus der Region ab.
Einiges bleibt an Sonderpädagoginnen hängen
Auch Brühn und ihre Kolleginnen werden von Vertetungslehrern unterstützt. "Da haben wir zum Teil auch wirklich sehr Gute", sagt Claudia Brühn. Bei Kaffee und Tee tauscht sie sich in der kurzen Pause zwischen den Stunden im Lerncontainer mit ihren Kolleginnen Cornelia Scheibe und Dörte van der Steen aus. "Bestimmte Aufgaben dürfen und können Vertretungslehrer aber nicht übernehmen. Gutachten schreiben zum Beispiel, das bleibt an uns hängen", erklärt Cornelia Scheibe.
So ein Gutachten hat die Sonderpädagogin gerade verfasst. Cornelia Scheibe schiebt einen dicken Aktenordner über den Tisch zu Claudia Brühn. "Ich leite das ans Schulamt weiter", erklärt Brühn. Dort wird dann entschieden, ob man dem Schüler einen sonderpädagogischen Förderbedarf bewilligt. "Mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf müssen die Schüler nicht mehr dem Lernplan der Klasse folgen, sondern sie bekommen ihre individuellen Ziele gesteckt, bleiben aber trotzdem in ihrer Klasse. Das stoppt oft ihre Frustration", erklärt sie. Ziel sei aber immer, dass die Schüler irgendwann wieder mitlaufen könnten.
Studienkapazitäten nicht ganz ausgeschöpft
In Zukunft wird es für Sonderpädagogen wohl eher mehr als weniger zu tun geben, glaubt Hendrik Reimers vom Landesverband Sonderpädagogik. "In den letzten Jahren hatten wir immer einen Zuwachs an Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Aus meiner Sicht ist weiter damit zu rechnen, dass wir zunehmende Zahlen haben", sagt er.
Gleichzeitig entscheiden sich im Land weniger Menschen für den Beruf, als ausgebildet werden könnten. Wer sich in Schleswig-Holstein für den Beruf des Sonderpädagogen interessiert, der kann an der Europa-Universität Flensburg den dualen Masterstudiengang Lehramt Sonderpädagogik studieren. "Das Studium dauert drei statt zwei Jahre, aber das Referendariat ist schon miteinbezogen. Darüber versuchen wir Attraktivität herzustellen", fasst Kirsten Diehl, Professorin am Insitut für Sonderpädagogik der Europa-Universität Flensburg, zusammen. Doch die Studienkapazitäten werden nicht ganz ausgeschöpft.
Trotz allem - die Sonderpädagoginnen aus Schwarzenbek machen ihren Job gerne. Sie üben mit den Kinder, erklären, bauen sie auf, stabilisieren. Manchmal geht es gar nicht voran, manchmal nur in kleinen Schritten. "Wenn uns ein Kind sagt: Jetzt habe ich es verstanden - dann freut uns das total", erzählt Dörte van der Steen. Denn dann ist für sie klar, dass ihre Arbeit Früchte trägt.