Inklusion in SH: Der lange Weg von der Sonderschule zum UN-Ziel
Der Streit um Ressourcen und pädagogische Konzepte begleitet die Geschichte der Inklusion in Schleswig-Holstein. Wo kommen die Ziele her, und was ist nötig, um sie zu erreichen? Ein Rückblick auf die wichtigsten Weichenstellungen.
Das Ende der Sonderschulen beginnt 1990. Mit seinem neuen Schulgesetz stellt Schleswig-Holstein damals die ersten Weichen für gemeinsamen Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderung. Bisher werden Kinder mit Förderbedarf in einem Parallelsystem unterrichtet.
Damals heißt das Ziel noch "Integration" - der Schüler soll sich ins bestehende System einfügen. Später wird die Rede von "Inklusion" sein: ein gemeinsames System für alle.
Vereinte Nationen legen neue Standards fest
Genau das beschreibt die UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahre 2006. Sie legt unter anderem das Ziel fest, dass die Staaten das "Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung" anerkennen. Und zwar über ein Bildungssystem für alle. Aus Integration soll Inklusion werden.
"Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen" Übereinkommen der Vereinten Nationen, Artikel 24, 13.12.2006
Am 24.2.2009 ratifiziert Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Sie ist seitdem geltendes Recht in Deutschland. "Es geht um Chancengleichheit in der Bildung, es geht darum, auch Kinder mit Behinderungen einzubeziehen, statt sie zu separieren und auszugrenzen", sagt Irene Johns, Vorsitzende des Kinderschutzbundes Schleswig-Holstein. "Unser Ziel muss daher die inklusive Schule für alle Kinder sein."
2009: Jahr der inklusiven Bildung in Schleswig-Holstein
Schleswig-Holstein gilt damals schon als bundesweiter Vorreiter in Sachen Inklusion. Fast die Hälfte der Kinder mit Förderbedarf wird zu der Zeit an Regelschulen unterrichtet. Die damalige SPD-Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave gibt das Ziel vor, die Entwicklung weiter voranzutreiben. In den kommenden zehn Jahren soll das Land den europäischen Durchschnitt erreichen. Anlässlich des "Jahres der inklusiven Bildung" sagt die Ministerin 2009, es gehe darum, "dass man den Blick verändert."
"Es geht darum, dass man den Blick verändert, nicht erwartet, dass das Kind sich anpasst an die Schule, sondern dem besonderen Bedarf jedes einzelnen Kindes gerecht wird." Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave, 20.2.2009
Die Zahl der Kinder mit Förderbedarf an den Regelschulen steigt. Und manche Förderzentren werden zu Schulen ohne Schüler - die ihre Lehrkräfte an die Regelschulen schicken, berichtet Alexandra Arnold, Geschäftsführerin der Lebenshilfe Schleswig-Holstein. Allerdings nur für wenige Stunden, kritisiert sie. Deshalb werden vermehrt Schulbegleiter eingestellt. "Je mehr Kinder mit einem besonderen Bedarf in den allgemeinbildenden Schulen landeten, desto mehr stieg der Bedarf an Schulbegleitung. Und der geht immer noch durch die Decke", sagt Arnold.
Mit der Inklusionsquote steigt der Diskussionsbedarf
In den 2010er-Jahren steigt die Inklusionsquote in Schleswig-Holstein weiter. Die Friedrich-Ebert-Stiftung stellt Schleswig-Holstein zusammen mit Berlin, Bremen und Hamburg ein positives Zeugnis aus. Die Umgestaltung des Bildungssystems werde dort "besonders konsequent" angegangen, heißt es im Ländervergleich "Inklusive Bildung in Deutschland".
Diskussionen gibt es dennoch. Sie drehen sich im Kern darum, ob der Großteil der Kinder mit Förderbedarf an Regelschulen unterrichtet werden soll - oder ob Förderzentren erhalten bleiben sollen, wie es die CDU damals fordert. Das Thema ist emotional. Das zeigt auch eine Landtagsdebatte im Jahr 2014, in der die damalige Bildungsministerin Wara Wende (parteilos) Förderzentren unter anderem als "stigmatisierend" bezeichnet. Empörte Oppositionspolitikerinnen und -politiker drängen die Ministerin zu einer Entschuldigung.
Qualität vs. Quantität: Die Frage der Ressourcen
Und immer stärker rückt auch die Frage der Qualität in den Vordergrund. Denn was nützt eine hohe Inklusionsquote, wenn das nötige Geld und Personal fehlen? Der Landesrechnungshof konstatiert 2017, für ein inklusives Schulsystem fehle Geld, die "dafür notwendigen Ressourcen" seien nicht vorhanden.
"Die Landesregierung strebt ein inklusives Schulsystem für alle Schularten und Schulen an. Die dafür notwendigen Ressourcen sind im System Schule nicht vorhanden." Inklusion an Schulen, Bericht des Landesrechnungshofs, 24.10.2017
Die Frage nach den Ressourcen ist aus Sicht von Volker Nötzold entscheidend. Der Vorsitzende des Landeselternbeirats der Grundschulen und Förderzentren meint: "Die Möglichkeiten der Inklusion sind theoretisch ohne Grenze, aber die realen Ressourcen begrenzen die Möglichkeiten."
Bildungsministerin Prien: Qualität nicht vergessen
2020 kündigt Bildungsministerin Karin Prien (CDU) an, die Inklusionsquote von inzwischen 70 Prozent nicht um jeden Preis weiter steigern zu wollen. Stattdessen wolle sie die Qualität in den Mittelpunkt stellen, so Prien. Das sei über Jahre zu wenig passiert. Die SPD bestreitet das - und wirft der Ministerin vor, sie habe "das Leitbild inklusive Schule aufgegeben", und gebe deshalb auch nicht genug Ressourcen für die Inklusion frei, so der SPD-Bildungspolitiker Martin Habersaat.
Prien sagt heute, dass das Land jährlich 70 zusätzliche Sonderpädagogenstellen geschaffen und die Schulassistenzen an den Grundschulen ausgebaut habe. Man werde aber damit umgehen müssen, dass die Personalressourcen endlich seien. Und: "Auch die Haushaltslage ist jetzt gerade sehr angespannt, also auch da wachsen die Bäume nicht in den Himmel."
Ohne Förderzentren geht es nicht - vorerst
Eine Lösung aus Priens Sicht: Die Menschen, die an den Schulen arbeiten, sollen besser zusammenarbeiten. "Es gibt eben auch eine ganze Menge an Ressourcen im System, die nicht optimal genutzt werden", so Prien. Sie spricht sich für Pool-Lösungen aus. Viele unterschiedliche Akteure arbeiteten in multiprofessionellen Teams. "Da liegt im Moment noch die Betonung stark auf 'multiprofessionell' und noch zu wenig auf 'Team'", sagt Prien.
Eine Abschaffung der Förderzentren steht derzeit nicht zur Debatte. Aus Priens Sicht wird es sie weiterhin geben müssen. Um zu beraten und zu unterstützen, aber in Einzelfällen auch für schulische Angebote.
Hendrik Reimers, Landesvorsitzender des Verbandes Sonderpädagogik sagt: "Es gibt nicht die eine Lösung für alle Schüler. Manche sind besser aufgehoben in Förderschulen, andere in der Regelschule, je nach Art und Schwere der Behinderung."
Zumindest langfristig könnte es aber vielleicht doch ohne Förderzentren gehen: Prof. Dr. Kirsten Diehl vom Institut für Sonderpädagogik an der Europa-Universität Flensburg hält das momentan zwar noch nicht für realistisch - das System gebe es nicht her - aber: "Es ist dann möglich, wenn ich eine gescheite Verbindung zwischen Sonderpädagogik, Sozialpädagogik, Schulpsychologie, Regelpädagogik herstelle und diese unter einem Dach platziere. Warum denn nicht?"
Ist die Inklusion an Schulen gescheitert?
Die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention werden regelmäßig überprüft. Im August hat der Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen sich ein Bild davon gemacht, wie weit Deutschland mit der Inklusion ist. In ihrem Bericht loben die Prüfer zwar verschiedene Gesetzesinitiativen, mahnen aber auch an, dass es Deutschland im Bereich Bildung noch nicht gelungen sei, inklusive Bildung im gesamten Erziehungssystem zu implementieren.
2023 sorgt das Thema Inklusion weiter für Diskussionen - und bei manchen auch für Frust. Aber ist Inklusion gescheitert? Alexandra Arnold von der Lebenshilfe meint, dass man das eigentlich erst sagen könnte, wenn es echte Inklusion schon gäbe. Soweit sei man aber noch nicht.
Gerade im schulischen Kontext, sagt Arnold, habe Inklusion einen unschön gefärbten Anstrich bekommen. Manche Lehrkräfte hätten das Gefühl, dem Bedarf nicht gerecht werden zu können - egal wie viel sie arbeiten und sich fortbilden."Deswegen ist aber nicht Inklusion gescheitert. Sondern die Umsetzung und der Anspruch, der da hereingegeben worden ist, der war von Anfang an nicht machbar."
Auch Prof. Diehl meint, noch gebe es gar keine Inklusion, "weil sich das System überhaupt noch gar nicht den Bedingungen angepasst hat. Und dann kann ich natürlich auch nicht sagen, sie ist gescheitert."