Eine Frau liegt auf dem Sofa, hat ihre Füße hochgelegt und liest ein Buch. © picture alliance / Klaus Ohlenschläger Foto: Klaus Ohlenschläger
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AUDIO: Welttag des Buches: Warum lese ich eigentlich? (4 Min)

"Welttag des Buches": Warum lese ich eigentlich?

Stand: 23.04.2024 06:00 Uhr

Wer liest denn überhaupt noch und warum? Das ist unsere große Frage, heute am Welttag des Buches. NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch liest von Berufs wegen - aber das allein kann’s ja nicht sein. Persönliche Gedanken zum Stichtag.

von Alexander Solloch

"Denn wer mehr liebt, der muss mehr leiden“, weiß jeder, der Tucholsky gelesen hat (allerdings auch jeder, der es nicht getan hat). Es steht in seinem wunderschönen Gedicht "Sie, zu ihm". Da ist die Sehnsucht, die schmerzlich zupackende Sehnsucht:

"O wärst du zärtlich!
Meinetwegen kannst du sogar gefühlvoll sein.
Mensch, wie ein warmer Frühlingsregen,
So hüllte Zärtlichkeit mich ein!"

Ja, wärest du es nur, aber du bist es nicht und also muss mehr leiden, wer mehr liebt.

Wer mehr liest, der darf mehr leben

Da hat es, scheint es, nur Vorteile, das Lieben sein zu lassen zugunsten des Lesens: Denn wer mehr liest, der darf mehr leben, das ist quasi amtlich bestätigt. Die AOK schreibt - unter Berufung auf vielfältige Studien, Lesen senke den Stresspegel um bis zu 68 Prozent, verringere die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, und beeinflusse sowieso die verbale Intelligenz positiv. Dies hat zur Folge, dass man nicht mehr sagt: "Der kann aber gut reden", sondern: "Seine verbale Intelligenz ist aber positiv beeinflusst!" Alles also sehr erfreulich, und so lautet denn auch die Zusammenfassung der Krankenkasse, dass "eifrige Leser und Leserinnen von Büchern im Durchschnitt 23 Monate länger leben als Personen, die keine Bücher lesen."

Aussichten auf ein längeres Leben

Dass man im Zustand des Lesens weitgehend unsportlich verharrt und sich zwischendurch nur mal kurz bewegt, um sich ein Käsebrot und noch eins und noch eins zu schmieren, damit man nicht ermattet wegsackt, während der Autor halbherzig versucht, bei der Beschreibung eines Sonnenaufgangs aus dem Quark zu kommen, scheint sich also nicht besonders negativ auf die Gesundheit auszuwirken. Das ist ja schon mal schön.

Trotzdem scheint der Ratschlag, um eines längeren Lebens willen mehr zu lesen, ähnlich sinnvoll wie der, Sport zu treiben. Dass man nicht durch den Wald rennt oder sich im Fitnessstudio verausgabt, dürfte daran liegen, dass man es nicht gern tut. Wenn nun die Verheißung lautet, man könne länger leben, wenn man seine Lebenszeit darauf verwendet, etwas zu tun, was man nicht mag - dann kann man es doch auch lassen und eben kürzer leben; und freudvoller. Also nein, liebe AOK, kluge Leute machst du auf diese Weise nicht zu Lesern!

Verbunden mit der Welt

Fragen wir stattdessen die, die wirklich was vom Lesen (und Leben) verstehen. Michael Köhlmeier, der große Erzähler aus Vorarlberg, weist auf die enorme Heilkraft der Literatur hin. Es sei ja immerhin eine merkwürdige Art der Unterhaltung: Man müsse sich irgendwo hinsetzen, mit immer müder werdenden Augen irgendwelche Symbole entschlüsseln, diese im Kopf in sinnliche Wahrnehmung übersetzen. "Nein", sagt Köhlmeier, "ich glaube, der Unterhaltungswert der Literatur wird weit überschätzt, aber ihre Heilkraft wird weit unterschätzt." Es ist klar: Wer selbst erfährt, dass Liebe auch Leid bedeutet, findet Trost in Tucholskys Gedicht. Er oder sie fühlt sich nicht mehr so allein, fühlt sich verbunden mit der Welt. Das ist in der Tat mehr, als ein Käsebrot leisten kann.

Aber da ist noch etwas. Im Nachlass von Harry Rowohlt findet sich ein handschriftlicher Lebenslauf, in dem er sich - noch nicht ahnend, dass alles ganz anders kommen würde - eine Zukunft als Verlagsbuchhändler ausmalt. "Weil ich selbst nicht ungern lese", schreibt der 20-Jährige und fügt hinzu: "Auch sehe ich es gern, wenn andere lesen, denn es bessert sie - wenn auch nicht sehr."

Eifrige Leser von Tucholsky leben im Durchschnitt ewiger

Damit man mir dieses winzige Fitzelchen Besserung ansieht, lese ich. Am liebsten Tucholsky: "Der Mensch möchte nicht gern sterben, weil er nicht weiß, was dann kommt. Bildet er sich ein, es zu wissen, dann möchte er es auch nicht gern, weil er das Alte noch ein wenig mitmachen will. Ein wenig heißt hier: ewig." Ja, ich glaube, dass eifrige Leser und Leserinnen von Tucholsky im Durchschnitt ewiger leben als die, die ihn nicht lesen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 23.04.2024 | 07:20 Uhr

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