Murat Dikenci: Vermittler in Sachen Theater
Seit der Spielzeit 2021/22 ist Murat Dikenci als Künstlerischer Leiter der Universen und Künstlerischer Vermittler am Schauspiel Hannover tätig. Der Schauspieler und Theatermacher will neues Publikum für das Theater begeistern.
Die Cumberlandsche Galerie ist ein Teilgebäude des Schauspiel Hannover, dem Arbeitsplatz von Murat Dikenci: "Es ist das schönste Treppenhaus Hannovers. Das verwandelt sich auch mal am Wochenende zu einem Club, und die meisten Leute wissen gar nicht, dass wir oben eigentlich Theater machen."
An diesem Nachmittag gehört die Theaterbühne dem "Start2Dance"-Kollektiv. Die jungen Tänzer und Tänzerinnen haben ihre Show selbst entwickelt, Dikenci bietet ihnen ein professionelles Umfeld. Für ihn passt das perfekt zum Konzept der "Universen": "Ich sehe die Universen als eine solidarische Bühne an, die den Stimmen Platz gibt, die noch zu wenig oder gar nicht gehört worden sind. Ich gebe ganz gern diese Räume ab, die wir uns erkämpft haben. Das ist ja mein Ansatz, dass sie erstmal einfach nur in diesen Räumen sind, sehen, hier findet was statt, um dann nachhaltig zu gucken, okay, sie können auch teilhaben."
Murat Dikenci will theaterfernes Publikum anlocken
Als künstlerischer Leiter der "Universen" will Murat Dikenci ein sonst eher theaterfernes Publikum ins Schauspielhaus Hannover locken. Nicht nur durch "Mitmachprojekte", sondern auch durch professionelle Inszenierungen von bislang wenig beachteten Stoffen. Zum Beispiel "Yahya Hassan". Eine Hommage an den umstrittenen dänisch-palästinensischen Dichter, der sich schonungslos an Identitätsfragen abarbeitete: "Wenn wir Teile der Gesellschaft erreichen wollen, die noch nie im Theater waren, dann müssen wir auch ein Angebot schaffen, wo sie überhaupt kommen können. Und wenn sie nicht auf den Bühnen repräsentiert sind, dann müssen wir zumindest Programm einladen oder auch selber produzieren, so dass genau diese Stimmen auch vertreten sind."
Dikenci selbst ist Enkel türkischer Gastarbeiter, er wächst in Garbsen auf, in einem sogenannten "Problemstadtteil". Auf Initiative einer Lehrerin landet er im Knabenchor Hannover, spielt später am jungen Schauspiel. Und kommt doch erst über Umwege richtig am Theater an: "Ich habe mich eigentlich bewusst dazu entschlossen, noch was Anderes zu studieren und habe tatsächlich nebenbei so an den Schauspielschulen vorgesprochen. Das erzähle ich eigentlich immer nicht so gerne, aber auch da habe ich schon gemerkt, dass da so eine gewisse Skepsis da war. Und das war so Ende der 2000er." Oft musste er hören: "'Wir haben eigentlich keine Rollen für dich. Wir wissen eigentlich gar nicht, wie wir mit dir umgehen sollen. Du passt eigentlich nicht in das Ensemble rein'. Deswegen habe ich es schnell gelassen und dachte: Nee, ich muss meine Nische woanders finden."
Durchbruch mit "postmigrantischem Theater"
Seine Nische fand er in Berlin. Das Ballhaus Naunynstraße und später das Gorki Theater boten ab 2008 neue Plattformen für diverse Künstler und Künstlerinnen, deren Perspektiven anderswo fehlten. Der Durchbruch dieses "postmigrantischen Theaters" kam mit einem Stück über eine Lehrerin, die ihre Klasse mit Waffengewalt zur Schiller-Lektüre zwingt.
Murat Dikenci war Teil des Ensembles: "Das war einfach eine Familie, wo wir irgendwie alle zusammengekommen sind, gemerkt haben, hey, wir wollen auch Theater schaffen. Und diese Familie ist gewachsen, und wir sind eigentlich bundesweit vernetzt."
Arbeit an Öffnung des deutschen Theaters für viele Menschen
Seine Berliner "Bubble" hat Dikenci nun verlassen für den Job in seiner alten Heimat Hannover. Mit den "Universen" will er weiter an der Öffnung des deutschen Theaters arbeiten: "Ich glaube, wir sind in der Theaterlandschaft noch mehr am Anfang. Ich habe Regisseurinnen gehört, die meinten ach, ich weiß gerade nicht, was ich inszenieren soll. Mir fällt da nichts ein. Und mir fällt eine Palette an Geschichten und Storys ein, die noch nicht erzählt worden sind."
Dikencis Vision: Das Theater zu einem Ort machen, an dem Menschen, die sich sonst nicht gesehen und gehört fühlen, teilhaben können. Kann das funktionieren? Dikenci meint ja: "Das habe ich oft eingefangen, dass mir ZuschauerInnen das zurückmelden und sagen: 'Hey Murat, ich war bis jetzt noch nie im Theater. Meine Eltern waren noch nicht hier, aber irgendwie hast du es mit deinem Programm geschafft, dass wir überhaupt schon dreimal hergekommen sind'. Und deswegen ist das Ziel schon erfüllt."
Frischer Wind am Schauspiel Hannover
Nach der "Start2Dance"-Performance dürfen die Zuschauer:innen die Bühne stürmen. Die Show geht nahtlos in eine Party über. Mit dabei auf der Tanzfläche: Murat Dikencis Eltern. Auch sie hatten früher kaum Bezug zum Theater, durch ihren Sohn sind sie nun Dauergäste. Berührungsängste abbauen, das ist das Hauptziel der "Universen": "Diese Spielzeit haben wir tatsächlich unter dem Spielzeitmotto "Deutsche Angst" gestartet, also angelehnt an den Begriff German Angst. Und ich dachte, diese Angst wollen wir umkehren und zeigen: Ihr braucht gar keine Angst haben. Ihr seid immer willkommen und ihr könnt euch mit uns gemeinsam empowern." Frischer Wind am Schauspiel Hannover. Das ist gut für alle - egal ob altes oder neues Publikum.