Jüdisches Neujahrsfest: Hoffnung auf Menschlichkeit
Vor einem Jahr fand der Angriff der Terrorgruppe Hamas auf Israel statt. In Hamburg zeigen sich die Folgen des schlimmsten Pogroms auf Juden und Jüdinnen seit dem Holocaust: Der Antisemitismus ist seitdem sprunghaft angestiegen.
Daphna Horwitz und Stefanie Szczupak backen Challot zum jüdischen Neujahrsfest, geflochtene Hefekränze, mit Mohn bestreut, an Neujahr ausnahmsweise mit viel Zucker im Teig. "Im Normalfall wünscht man sich ein süßes und gutes neues Jahr. Dieses Jahr kommen noch viele andere Wünsche dazu, aufgrund der Situation auf der Welt und in Israel", sagt Stefanie Szcupak und räumt ein: "Süß" sei das letzte Jahr - seit dem 7. Oktober - auch für ihre Gemeinde nicht gewesen: "Das war sehr bitter. Das war von süß ganz weit entfernt und hat viele Ängste, viele Verunsicherungen, viele Nöte hervorgebracht." Trotzdem gehe der Alltag weiter.
Angst um Angehörige in Israel
Auch für Daphna Horwitz, die der Reform-Synagoge der jüdischen Gemeinde angehört - dem liberalen Zweig -, war dieses Jahr kein gutes: "Es war ein nicht enden wollender Horrorfilm. Es war auf jeden Fall ein Jahr, das geprägt ist von viel Schrecken, von Ohnmacht, von Wut, von Entsetzen, von Trauer und vielen Tränen."
Immer schwingt auch die Sorge um Angehörige, um Freunde und Freundinnen in Israel mit, erklärt sie: "Leben noch alle, die mir lieb und teuer sind? Ich habe Freunde in Israel, die es gerade nicht mehr aushalten. Es gibt Tage, wo sehr viele Soldatinnen und Soldaten fallen. In meinem Freundeskreis sind das traurigerweise viele Leute, die jetzt in der Armee sind, die seit Monaten demonstriert haben gegen die aktuelle israelische Regierung, die sich für Frieden einsetzen."
Erschüttertes Sicherheitsgefühl in Hamburg
Die Folgen des Terrorangriffs der Hamas erleben beide unmittelbar, auch hier in Hamburg. Das Sicherheitsgefühl sei erschüttert. Die Zahl antisemitischer Taten hat sich deutlich erhöht. "Gerade Kinder an Schulen und in Sportclubs: Da hat es sich noch mehr verschlechtert und verschlimmert. Dieses Gefühl der Unsicherheit hat zugenommen und auch die Überlegungen: Wie sicher fühle ich mich noch, kann ich noch hierbleiben, muss ich weggehen, wenn ja, wohin?" Für Stefanie Szczupak war Israel immer der sichere Hafen im Notfall. Das hat sich geändert. Trotzdem: Sie trägt einen Davidstern an einer Halskette. Das lässt sie sich nicht nehmen. "Jetzt trage ich ihn erst recht, weil ein bisschen Sturheit und Bockigkeit ist auch in mir."
Beide Gemeindemitglieder haben Einsamkeit erlebt. Das Schweigen der Mehrheitsgesellschaft ist für sie ein bitteres Gefühl: "Ich bin deutsche Staatsbürgerin, ich wähle in Deutschland, ich darf in Israel gar nicht wählen", erklärt Szczupak. "Ich werde trotzdem für alles verantwortlich gemacht, ob ich dahinter stehe oder nicht. Ich glaube, wenn wir ganz ganz ehrlich sind, steht einfach Judenhass dahinter."
Den Blick für die Menschlichkeit nicht verlieren
Es habe aber auch Momente großer Solidarität gegeben, berichten beide. Daphna Horwitz sei vor einem Jahr von einem syrischen Christen aus der Nachbarschaft spontan in den Arm genommen worden, ohne Worte. Auch sie spüre eine große Verbundenheit mit Israel: "Meine Familie ist 1935 von Hamburg aus in das damalige Palästina ausgewandert. Meine Familie ist wieder zurückgekommen, ich würde aber heute nicht in dieser Küche sitzen, wenn es nicht Palästina und später Israel gegeben hätte."
Besonders das Schicksal der von der Hamas entführten Geiseln beschäftigt die Gemeinde sehr. Regelmäßig wird bei Gedenkspaziergängen an sie unter dem Motto "Run for their lives" erinnert. Daphna Horwitz' Appell: "Ich finde es seit dem letzten Jahr enorm wichtig, dass wir alle den Blick für die Menschlichkeit nicht verlieren. Wenn wir uns das bewahren, können wir bestimmte Gruppen gar nicht unterstützen, können wir uns nicht für Terrororganisationen einsetzen."
Am Ende liegen die frisch gebackenen Challot auf der Küchenablage: für ein hoffentlich besseres neues Jahr 5785 im hebräischen Kalender. Die beiden Frauen lächeln - eine Mischung aus Trauer, Trotz und Hoffnung. Auf Hebräisch wünscht man sich: "Schana Tova u’metuka."