Europäischer Depressionstag: Mehr Diagnosen, weniger Suizide
Seit 20 Jahren findet am ersten Sonntag im Oktober der Europäische Depressionstag statt. Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, klärt im Gespräch über die Krankheit auf.
Herr Hegerl, seit 2004 gibt es den Europäischen Depressionstag. Was hat sich in den letzten 20 Jahren verändert, was die Wahrnehmung der Krankheit angeht?
Ulrich Hegerl: Da hat sich einiges getan. Die Menschen wissen heute besser als früher, dass Depression eine richtige Erkrankung ist und nicht nur eine Reaktion auf schwierige Lebensumstände. Dieses Wissen hat sich verbreitet. Die Ärzte sind auch besser geschult als früher, Depressionen zu erkennen. Das Stigma hat etwas abgenommen, sodass sich mehr Menschen Hilfe suchen. Deswegen ist auch die Zahl der Diagnosen in den meisten europäischen Ländern nach oben gegangen, auch sehr deutlich in Deutschland. Es werden viel mehr Menschen mit dieser Erkrankung diagnostiziert, aber wir haben nicht unbedingt mehr Erkrankte, sondern mehr Menschen suchen sich Hilfe, bekommen eine Diagnose und eine Behandlung. Das ist mit ein Grund, dass wir in den letzten 40 Jahren einen deutlichen Rückgang der Suizide haben. Das ist die naheliegendste Erklärung, warum die jährlichen Suizidzahlen von etwa 18.000 vor 40 Jahren, auf etwas mehr als 10.000 zurückgegangen sind.
Woran erkennt man selbst, dass man von einer Depression betroffen ist, und das es sich nicht um eine Verstimmung, einen schlechten Tag oder Lebensumstände handelt?
Hegerl: Man hat das Gefühl, dass man innerlich dauerangespannt ist, als ob man permanent vor einer Prüfung wäre. Man ist erschöpft, aber nicht im eigentlichen Sinne schläfrig. Man kann nicht gut einschlafen, man kann in der Nacht nicht gut durchschlafen, sondern es ist eher eine innere Daueranspannung. Viele Menschen neigen zu Schuldgefühlen; sie beschweren sich nicht über den Arbeitgeber oder die undankbaren Kinder, sondern sie geben sich selbst die Schuld: Ich bin eine schlechte Mutter, ich bin ein schlechter Kollege, ich mache alles falsch. Hinzu kommt, dass nichts mehr Freude macht; man ist unfähig, Freude zu empfinden. Der Appetit lässt nach, und viele Menschen verlieren Gewicht in der Depression, weil einfach nichts mehr schmeckt.
Hoffnungslosigkeit ist eingebaut in einer Depression: Man hat das Gefühl, dass das eine Sackgasse ist, aus der man nie wieder rauskommt. Das ist mit einem Grund, warum viele Menschen in der Depression Suizidgedanken entwickeln, das Gefühl haben, der einzige Ausweg aus dieser schrecklichen Sackgasse, aus diesem unerträglichen Zustand, sei, sich das Leben zu nehmen - der dunkle Begleiter der Depression ist Suizidgefährdung. Es gibt weitere Krankheitszeichen, und mindestens vier, fünf, sechs Krankheitszeichen müssen mindestens über zwei Wochen permanent vorliegen - erst dann spricht man von einer depressiven Erkrankung.
Das heißt, wenn man Hilfe sucht - und man sollte sich Hilfe suchen -, dann findet man die auch relativ schnell, weil die Ärztinnen und Ärzte inzwischen ein bisschen besser Bescheid wissen, oder?
Hegerl: Es gibt drei Anlaufstellen, wenn man den Verdacht hat, eine Depression zu haben. Das eine sind die Fachärzte, also Psychiater. Dann haben wir in Deutschland die Gruppe der Psychologischen Psychotherapeuten - das sind Psychologen, die auch in der Psychiatrie gearbeitet haben und die eine gute Ausbildung in Psychotherapie haben und die auch über die Kasse abrechnen können, wenn sie einen Kassensitz haben. Und dann sind auch die Hausärzte zuständig. Die beiden Behandlungssäulen sind Antidepressiva und Psychotherapie. In der Psychotherapie ist vor allem die kognitive Verhaltenstherapie das Verfahren mit den allerbesten Wirksamkeitsbelegen. Da geht es um Tagesstrukturierung, um Unterbrechung von negativen Gedankenkreisen, um Schutz vor Selbstüberforderung. Das Ganze ist also sehr praxis- und lebensnah.
Und wenn ich das Gefühl habe, jemand in meinem Umfeld könnte an einer Depression erkrankt sein, wie gehe ich damit um?
Hegerl: Das Wichtigste ist, ihn zu motivieren, sich Hilfe zu holen. Man kann als Angehöriger nicht selber als Therapeut fungieren. Man ist auch nicht schuld als Angehöriger, selbst wenn es einen bitteren Streit gegeben hat - Schuld ist diese dumme Erkrankung Depression. Man muss wissen, dass man in eine Depression nur reinrutscht, wenn man eine Veranlagung dazu hat. Menschen, die die Veranlagung haben, die rutschen immer wieder rein, selbst wenn ihnen das Leben ansonsten sehr freundlich gesinnt ist, sie eine nette Familie haben und einen guten Beruf. Wenn sie die Veranlagung haben, rutschen sie meistens mehrfach im Leben in eine Depression rein. Menschen ohne diese Veranlagung haben oft die größten Bitternis - bekommen davon aber keine depressive Erkrankung. Das ist wichtig zu verstehen, dass eine Depression etwas anderes ist als eine Reaktion auf schwierige Lebensumstände. Hat man die Veranlagung, können dann äußere Faktoren als Auslöser, als Trigger wirken. Aber entscheidend ist die Veranlagung.
Das Gespräch führte Philipp Schmid.