Ein ausgebrannter russischer Panzer liegt vor einem zerstörten Wohnhaus in dem Dorf Mala Rogan, östlich von Charkiw. © picture alliance/dpa/SOPA Images via ZUMA Press Wire Foto: Aziz Karimov
Ein ausgebrannter russischer Panzer liegt vor einem zerstörten Wohnhaus in dem Dorf Mala Rogan, östlich von Charkiw. © picture alliance/dpa/SOPA Images via ZUMA Press Wire Foto: Aziz Karimov
Ein ausgebrannter russischer Panzer liegt vor einem zerstörten Wohnhaus in dem Dorf Mala Rogan, östlich von Charkiw. © picture alliance/dpa/SOPA Images via ZUMA Press Wire Foto: Aziz Karimov
AUDIO: Freitagsforum: Gerechter Krieg? Gerechter Frieden? (4 Min)

Ein Jahr Angriffskrieg: Gibt es eine islamische Friedensethik?

Sendedatum: 24.02.2023 15:20 Uhr

Vor genau einem Jahr überfiel Russland die Ukraine. Der Islamwissenschaftler Michael Kiefer nimmt diesen Tag zum Anlass und stellt in seinem Kommentar die Frage nach gerechtem Krieg und gerechtem Frieden.

von Michael Kiefer

Der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 beendete die lang währende europäische Friedensordnung. Seit diesem Tag ist das Schreckgespenst kriegerischer Gewalt in den Medien allgegenwärtig. Kein Tag vergeht, an dem nicht über Panzerlieferungen, Haubitzen und Flugabwehrsysteme diskutiert wird. Wir durchleben eine Zeitenwende, die viele Menschen in tiefe Verwirrung stürzt. So erlebt die christliche Theologie derzeit die Wiederkehr der Lehre vom "gerechten Krieg". So mancher Theologe reibt sich verwundert die Augen. Der Krieg als Ultima Ratio. War dies nicht längst überwunden? Seit mehr als 20 Jahren sprach man in der christlichen Theologie vom Leitbild des "gerechten Friedens", in dem es für die Lehre von "bellum iustum" keinen Platz gab.

Weitere Informationen
Anna, die Ehefrau eines vor zwei Monaten getöteten Soldaten, und der Vater Oleksandr stellen auf dem Friedhof der Hafenstadt Odessa die ukrainische Nationalflagge am Grab ihres Ehemannes auf. (Foto vom 24. Februar 2024) © Kay Nietfeld/dpa

Zwei Jahre Ukraine-Krieg: Russlands Überfall und die Folgen

Am 24. Februar 2022 begann der Angriff. In der Ukraine starben mindestens 10.000 Zivilisten. mehr

Krieg und Frieden im Koran: Keine klaren Positionen

Und wie schauen muslimische Gelehrte auf diesen Krieg? Die Lage ist kompliziert. Da der Islam kein universal verbindliches Lehramt kennt, gibt es keine für alle Muslime verbindliche Positionen zu Krieg und Frieden. Die Sichtweisen sind folglich verschieden. Koran und Sunna enthalten viele Stellen, die sich mit Krieg und Frieden befassen. Jedoch sind jeweils verschiedene Deutungen möglich. Es ist daher ein fruchtloses Unterfangen, eine einzelne Sure zu Krieg und Frieden als normativ zu setzen. Der berühmte Islamgelehrte Ibn al-Dschazari wurde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass es verschiedene Lesarten des Koran gibt. Er verglich den Koran mit einem gewaltigen Meer, in dem man nie auf den Grund stößt und nie durch ein Ufer zum Halten gebracht wird.

Ein Porträt zeigt Michael Kiefer, Dozent am IIT. © dpa - Bildfunk Foto: Friso Gentsch
Michael Kiefer ist Islamwissenschaftler am Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück.

Für viele Muslime begründet dieser Sachverhalt ein Dilemma. In Ermangelung einer präzise dargelegten islamischen Friedensethik, die in Koran und Sunna verankert ist, gestaltet sich die Suche nach klaren Positionen schwierig. Kann ein Krieg gerecht sein? Wer darf Ihn erklären? Wie kann er geführt werden? Und ab wann besteht die Pflicht, die Gewalt zu beenden? Die islamischen Quellen bieten zu diesen schwierigen Fragen verschiedene Anhaltspunkte und Sichtweisen. Finale und allgemeingültige Antworten gibt es indessen nicht.

Eindeutigkeit entspricht nicht der islamischen Gelehrtentradition

Wenn es um Krieg und Frieden geht, ist folglich auch unter Muslimen die Uneinigkeit groß. Sich widersprechende Sichtweisen zum Dschihad stoßen aufeinander und jede Position kann Koran und Sunna für sich reklamieren. Die Bandbreite der vertretenen Positionen ist beträchtlich. Die einen verstehen den Dschihad als einen Krieg, der nur zur Verteidigung geführt werden kann. Wieder andere sind der Ansicht, der Begriff Dschihad bezeichne in erster Linie die individuellen Anstrengungen, ein gottgefälliges Leben zu führen. Der Umgang mit dieser Pluralität gestaltet sich nicht immer einfach. Vor allem radikale Islamisten proklamieren eine literalistische, also wortwörtliche Lesart islamischer Quellen. Ihr Ziel ist Eindeutigkeit in allen Belangen. Doch das Pathos einer strikten Einwertigkeit entspricht nicht der Gelehrtentradition. Verschiedene Deutungen der heiligen Texte und daraus resultierende Meinungsunterschiede zwischen islamischen Gelehrten waren in der langen islamischen Tradition nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

Weitere Informationen
Anna, die Ehefrau eines vor zwei Monaten getöteten Soldaten, und der Vater Oleksandr stellen auf dem Friedhof der Hafenstadt Odessa die ukrainische Nationalflagge am Grab ihres Ehemannes auf. (Foto vom 24. Februar 2024) © Kay Nietfeld/dpa

Zwei Jahre Ukraine-Krieg: Russlands Überfall und die Folgen

Am 24. Februar 2022 begann der Angriff. In der Ukraine starben mindestens 10.000 Zivilisten. mehr

Margot Käßmann © imago

Margot Käßmann distanziert sich von rechter Unterwanderung des "Manifests"

"Ich habe mir nicht vorstellen können, welche Exegese mit diesem Text betrieben wird", sagt sie über das "Manifest für den Frieden". mehr

Lena Bodewein © Lena Bodewein

NachGedacht: Frieden schaffen - womit?

Ein Jahr nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat Putin dafür gesorgt, dass unser Denken, unsere Begriffe, unsere Sicherheiten neu geschrieben wurden. mehr

Dmitry Glukhovsky © picture alliance TT NYHETSBYRÅN Henrik MontgomeryTT Foto: picture alliance TT NYHETSBYRÅN Henrik MontgomeryTT

Dmitry Glukhovsky über Putins Krieg in der Ukraine

Der streitbare Intellektuelle und Bestsellerautor wird nicht leise und kritisiert den russischen Krieg in der Ukraine. mehr

Schauspieler und Musiker Lenn Kudrjawizki © Nela König Foto: Nela König

Lenn Kudrjawizki über Putins Krieg: "Ich kann es kaum ertragen"

Der in St. Petersburg geborene Schauspieler hat Familie in Moskau und Charkiw. Im NDR Fernsehen hat er darüber gesprochen, was das bedeutet. mehr

Die ukrainischen Fotografen Olena Dolzhenko und Volodymyr Ogloblin © picture alliance/dpa | Frank Neuendorf Foto: Frank Neuendorf

Olena Dolzhenko und Volodymyr Ogloblin: Mit Fotografie den Krieg sichtbar machen

Seit Beginn des Angriffskrieges von Russland gegen die Ukraine sind tausende Menschen geflüchtet. Zwei Fotografen sind in Niedersachsen gelandet. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Freitagsforum | 24.02.2023 | 15:20 Uhr

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Eine Frau mit langen dunklen Haaren, die zu einem Zopf gebunden sind, steht auf der Bühne, hält ein Mikrofon in der Hand und singt. Es ist die US-amerikanische Sängerin Beth Hart. © picture alliance / Ritzau Scanpix | Helle Arensbak Foto: Helle Arensbak

Beth Hart in der ZAG Arena Hannover: nicht mal halb gefüllt

US-amerikanische Blues- und Rocksängerin heizt dem Publikum ein, doch sie spricht auch über bipolare Störungen und Drogensucht. mehr

Das Logo von #NDRfragt auf blauem Hintergrund. © NDR

Umfrage zum Fachkräftemangel: Müssen wir alle länger arbeiten?